Ferne Verwandte
aber der Onkel hebt mich hoch und schwingt mich in den Lastwagen. Mir stehen Tränen in den Augen, als wir durch die kleine Allee fahren und eine Staubwolke hinter uns herziehen. An einen Baum gelehnt, eine Zigarette zwischen den Lippen, sehe ich Pit mit seinem neuen traurigen Gesicht. Zum letzten Mal sehe ich ihn - so will es mir zumindest scheinen.
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Und so kehrte ich in mein Haus zurück, wo jetzt nichts mehr so war wie zuvor. Meine Cousinen wollten nicht, dass ich an ihren Spielen teilnahm; meine Tanten - dieselben, die mich mit ihren Küssen zu bedecken pflegten und jedes Mal gerührt waren, wenn ich in ihren Armen einschlief, weil sie mein unglückliches Schicksal als Waisenkind vor Augen hatten - hielten mich nunmehr auf Distanz. Im Dorf hatte man mich und Silvia in Pits Auto herumkutschieren sehen und dies Donna Augusta Filangeri hinterbracht, die es ihrerseits meiner Großmutter weitererzählt hatte, was der Großmutter genügt hatte, um einen ihrer Adlaten zu sich zu rufen und mit ihm meine letzten Wochen im Exil zu rekonstruieren. War nicht ich es gewesen, ihr Enkel, der Pit - diesen Cafone - jeden Vormittag zu seinen Weibern begleitet hatte? Der ihm in Spielhöllen und an allen möglichen anderen üblen Orten die Stange gehalten hatte? Am Abend des Festes hatte man mich in Fossacupa gesehen - »Da gehen nur die Schweinehirten hin« -, Wein trinken - »Es war Pepsi, Großmutter« -, ja, sogar rauchen - ›Es waren Blätterzigaretten, die sind harmlos‹, lag mir schon, auf der Zunge, aber Pits Warnung: »Das bleibt bitte ein Geheimnis zwischen uns beiden. Vergiss das nicht!«, hinderte mich im letzten Augenblick glücklicherweise daran, es laut auszusprechen. Was am schwersten wog, war aber: War nicht immer wieder ich es gewesen, der das Vertrauen der Filangeris missbraucht hatte, um ihm Silvia »zuzuführen«? Kurzum, klein, wie ich war, hatte ich mich schon mit unverzeihlicher Schuld befleckt, und von nun an
galt ich für lange Zeit als der Paria der Familie. Wie ich traurig feststellen musste, wurde mein Zimmer, in das ich mich gleich nach meiner Rückkehr vor lauter Wut eingeschlossen hatte, zu meinem Gefängnis. Stundenlang stand ich am Fenster und schaute durch eines der Ferngläser, die Nonnilde benutzte, um ihre Ländereien im Auge zu behalten. Ich stellte es scharf auf Faustos ausdrucksloses Gesicht, auf Genuarios Hände, die eine Zigarette drehten, auf die Vögel, die sich lautlos auf die Zweige der Eichen setzten; deutlich erkannte ich die violetten Blumen auf Vitinas Kopftuch, ihr Gesicht darunter, und es kam mir so seltsam vor zu beobachten, wie sich ihre Lippen unablässig bewegten, ohne dass ich ihre Stimme hörte. In diesen stummen Szenen lag ein Gefühl von Unwirklichkeit, das sich auf meine ganze einsame Existenz übertrug.
Der flache rote Rennwagen war verschwunden, und Pit bekam ich nie zu Gesicht, auch wenn ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Am frühen Morgen sagte ich mir: ›Jetzt wird er am Fluss sein‹, später dann: ›Er wird in der Bar sein‹, und am Abend, wenn die Berge transparent wie Schleier wurden: ›Er wird bei irgendeiner Frau sein.‹ Bis ich einmal vor lauter Langeweile aus meiner Zelle herausgeschlüpft war und mich vor der Schwelle jenes Zimmers niedergekauert hatte, in dem meine Tanten den Nachmittag mit Stickarbeiten verbrachten, und hörte, dass sie über ihn und Silvia redeten. Silvia hatte dasselbe Los getroffen wie mich. Ihre Eltern hatten sie ins Haus gesperrt, doch sie hatte sich just an diesem Morgen zu Pit aufs Land geflüchtet, ohne ihn dort anzutreffen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass Pit abgereist war. Als man ihr das mitgeteilt hatte, war sie weinend auf den Rand der Tränke gesunken - wie eine jener von Lord Leighton gemalten Jungfrauen, die ein paar Jahre später meine Phantasie bevölkern sollten. Genuario hatte sie dann in den Lieferwagen gesetzt. Den Hut in der Hand, das Haupt gesenkt, war er bei Nonnilde vorstellig geworden und hatte sie gebeten, Silvia zu ihren Eltern zurückzubegleiten, und er hatte erklärt, dass es nicht seine Schuld sei, wenn auch diese junge Dame wegen seines Sohnes den Kopf verloren habe, da alle ihn verlören.
Pit war also weg. Ich rannte zurück in mein Zimmer und warf mich weinend auf mein Bett. Ich fühlte mich so allein und verlassen wie nie zuvor - schlimmer noch vielleicht als damals, als mir zu Bewusstsein kam, dass ich eine arme Vollwaise war. Ich konnte es noch nicht wissen, aber ich war
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