Ferne Verwandte
aufwachte, war er schon wieder verschwunden. Dieses Mal hatte er sich allerdings verzogen, um sich zu rasieren. Er trällerte zur Schallplattenmusik, und sobald er mich sah, sagte er: »Ich habe mir einen Plan zurechtgelegt, Tscharlz. Wie ich schon sagte, es kommt auf deine Mitarbeit an. Kann ich auf dich zählen?«
»Klar doch, Pit! Alles, was du willst, Pit«, antwortete ich entzückt. Ich sollte nur zu Silvia nach Hause gehen, wie ich es schon oft getan hatte, sie aber, weil doch das Fest des Schutzheiligen gefeiert wurde, auf die Piazza einladen.
»Sie wird ihre Eltern um Erlaubnis bitten. Dank deiner geschätzten Anwesenheit dürften sie keine Schwierigkeiten machen. Aber aufgepasst, es muss alles nach Zufall aussehen, verstanden? Der Rest ist dann meine Sache. Irgendwelche Einwände?«
Keine Einwände meinerseits.
»Mhm, und wenn man dich sieht, während du an deinem Haus vorbeigehst?«
»Ich pass auf. Ich mache einen Bogen um das Hindernis und tarne mich«, antwortete ich, als wären wir die Comicfiguren Roddy (ich) und Blek Macigno (er).
»In Ordnung. Ich verlass mich auf dich.« Ihn das sagen zu hören tat echt gut.
Der Himmel war eine blaue Scheibe mit ein paar leuchtenden Sternen darauf, als wir zum Dorf hinauffuhren und die dunklen Bauernhäuser, die bellenden Hunde und die blinkenden Glühwürmchen hinter uns ließen. Von den Lämpchen beschienen, rollten wir zwischen den neugierigen Gaffern hindurch bis hinauf zum Kriegerdenkmal. Dort stoppte Pit den Wagen und sagte, während er mir die Tür aufhielt, mit einem Lächeln: »Jetzt geh und kehre als Sieger zurück!«
Ich rannte los, damit mich keiner sah, und bog dann in die kleine aufsteigende Gasse hinter dem Rathaus ein. Es war der Weg, den
ich jeden Tag zur Schule zurückgelegt hatte. Jetzt war die Straße leer. Auf den Stufen zu den letzten Türen, die noch von Sparlampen erhellt waren, saßen in Erwartung ihrer Eltern fein herausgeputzte Kinder und beobachteten mich schweigend. Obwohl ich nie einen Vater oder eine Mutter gehabt hatte, auf die ich hätte warten können, sondern nur eine mürrische aristokratische Großmutter, die stets bis zum letzten Augenblick unschlüssig war, ob sie uns an Feierlichkeiten, die für sie selbst zu plebejisch waren, teilnehmen lassen sollte, und obwohl ich nie bemerkt hatte, wie mild die Sommernächte waren, die uns Di Lontrones, ein fröhliches Heer von Verwandten, vollzählig hinter Nonnilde herschwärmen und uns dem Rest der Dorfbewohner anschließen sahen - am Ende ließ sie sich nämlich immer überzeugen, was nach der anfänglichen Ablehnung unsere Freude nur noch steigerte -, spürte ich jetzt doch, wie sich mir vor Heimweh das Herz zusammenkrampfte. Und als ich aus unserem Haus die Stimmen meiner Cousinen hörte, die mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt waren, wäre ich am liebsten hineingegangen und hätte sie weinend gefragt: Was habe ich nur getan, dass ihr mich nicht mehr wollt, und woher nehmt ihr bloß den Mut, wo ich doch nur ein armes Waisenkind bin? Aber dann dachte ich an Pit und an das, was er von mir erwartete. Außerdem war ich inzwischen groß geworden - ein Dieb, Buschblätterraucher und Spielhöllenbesucher zudem -, also lief ich direkt zu Silvias Palazzo, unter dem hohen Portal hindurch und auf das buckelige Pflaster im Hof. Ich streichelte die bemooste Statue in der Ecke, und nachdem ich die Glocke geläutet hatte, sah ich ihr Gesicht hinter der Tür auftauchen.
Sie warf mir einen kurzen Blick zu und schaute dann über mich hinweg. Gleich darauf musste sie über sich selbst schmunzeln: Was hatte sie denn erwartet? Es war doch nicht zu übersehen, dass ich alleine war! Wortlos begleitete sie mich an den großen Sälen vorbei. Ich begrüßte ihren Vater, den man in einen Sessel gesetzt hatte, und ihre Mutter, die Koffer auspackte, und dann betraten wir das Spiegelzimmer, unseren Lieblingsraum. Vorne stand auf ihrem Podest
die Sänfte: Wie viele Nachmittage hatten wir nicht darin verbracht und von wunderbaren außerirdischen Abenteuern geträumt?
Einen Moment bin ich in Versuchung, ihr unser übliches Spiel vorzuschlagen, aber man muss sie nur ansehen, um zu begreifen, dass sie nicht mehr wie früher ist. Seit heute Morgen ist Silvia eine andere. Sie trägt die Haare offen, außerdem ein kurzes ärmelloses Kleid, einen Gürtel aus Ringen um die Taille, silberne Sandalen, und vor allem ist sie in einer Stimmung, die ich noch nie an ihr erlebt habe. Mit verschränkten Armen sitzt
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