Ferne Verwandte
sie da und redet mit mir, wirkt aber geistesabwesend. Sie scheint auf etwas zu warten. Ich gehe zum Fenster. Man sieht ein Stückchen vom hellen Himmel, in der Ferne hört man Blasmusik. »Warum gehen wir nicht hin?«, frage ich so unschuldig, wie ich nur kann, aber sie kennt mich so gut, dass sie sofort kapiert, denn es ist genau das, worauf sie gewartet hat. Sie ist so begeistert, als sie mich zu ihrer Mutter zerrt, dass es mich fast ein wenig wurmt: Letzten Endes ist sie auch nicht anders als die anderen. Donna Augusta sieht uns an und nickt nichtsahnend.
Wir gehen durch die Gassen. Vor meinem Haus drücke ich ihre Hand fester und ziehe sie weiter, bis sie beim Belvedere eine Pause machen möchte. Sie atmet die Abendluft ein und betrachtet die klare Linie des Horizonts unter dem glasklaren Himmel. Ergriffen sagt sie: »Es ist so schön hier.« Ich blicke mich um, aber sosehr ich mich auch bemühe, ich kann nichts Besonderes erkennen. »Von meiner Terrasse aus sehe ich Ischia und Capri, und weißt du, an was ich denke? Ich denke an diesen … Aber du bist zu klein, um das zu begreifen«, fügt sie hinzu und wuschelt mir durchs Haar. Das stimmt. Ich begreife gar nichts. Ich höre nur die Klänge der Kapelle, die immer lauter wird, und zerre sie weiter.
Pit lehnt am Auto und lauscht. Auch als ich ihm Silvia vorstelle, bleibt er gleichgültig. Er würdigt sie kaum eines Blickes und dreht sich wieder dem künstlichen Licht zu, das vom Armaturenbrett strahlt. Warum sitze ich so auf der Leitung? Es ist ja offensichtlich, dass er genau das macht, was man, wie er mir selbst erklärt hat, mit den Frauen halt so macht. Und dass es funktioniert, bekomme ich
wieder einmal bestätigt: Silvia starrt ihn noch schmachtender an als am Vormittag. Die krächzende Musik ist ein solches Ärgernis, dass ich, als Pit die Zigaretten aus der Tasche seines indischen Hemds zieht, ein Zündholz am Gürtel anreibt, den Rauch wegwedelt und sagt: »Warum gehen wir nicht nach Fossacupa? Ich habe gehört, dass dort getanzt wird«, fast einen Freudenschrei ausstoße - und Silvia muss auch nicht lange gebeten werden.
Der Tanzboden ist eine offene, betonierte Fläche mitten im Wald. Ein Dutzend farbiger Lämpchen baumelt knapp über den Köpfen des Publikums, das aus jungen Männern mit sonnenverbrannten Gesichtern besteht. Sie tragen dunkle Hosen und fast ausnahmslos weiße Hemden, die sich im Schein der roten, grünen und gelben Lichter verfärben, und wetteifern um die Gunst der kraushaarigen, in Blümchenkleider gesteckten Mädchen, die überwacht werden von den Blicken ihrer Brüder/Cousins oder Mütter/Tanten, die bei jedem Tanz drohen, dass dies jetzt aber wirklich der letzte sei. Es gibt ein Ziegelmäuerchen mit einem Blechdach darüber, nämlich die Bar, ferner einen Typ mit einer blauen Baskenmütze, nämlich den Barkeeper, der soeben Würste aufschneidet und seinerseits überwacht wird von den gierigen Blicken zweier Mütter/Tanten, die, vorübergehend von ihrem strengen Dienst suspendiert, mit anhaltender Überheblichkeit die Zubereitung ihres Senguitsch kontrollieren - so sagt man hier zum Sandwich, das von der lokalen Bevölkerung mindestens als Ersatz für ein Dreigängemenü interpretiert wird. Pit erwidert die herzliche Begrüßung des rustikalen Barmanns nur knapp. Er bleibt abseits stehen und wartet auf das Ende der Belegprozedur, die durch die Wünsche der anspruchsvollen Kundinnen weiter kompliziert wird - »Tu noch’n Omelett rein, und Artischocken. Und Mozzarella und’ne Aubergine. Und’nen Peperone, aber’nen scharfen, wenn ich bitten darf!« Er beobachtet die kurze Reise der turnschuhgroßen Brötchen aus den Händen des Barkeepers in die hungrigen Mäuler der Mütter/Tanten, und als er sich endlich ein Bier bestellen kann, fragt er uns, was wir trinken wollen.
»Eine Coca«, antwortet Silvia und ich auch.
»Wir haben aber nur Peps«, gesteht der rustikale Barkeeper.
»Wieder mal typisch … Und das Bier ist auch ekelhaft warm«, versetzt Pit.
»Piètr, du lebst in Milàn, da iss es anders. Glaubst du vielleicht, ich will keinen Eisschrank kaufen? Aber es iss kein Geld da, und wir amüsieren uns trotzdem. Schau doch bloß, wie sie tanzen! Das iss doch was, oder?«
»Ja, und dann noch zu dieser Musik!«, schnaubt Pit.
»Hierher kommt nix, wir sind am Arsch der Welt. Aber du hast recht, wir bräuchten mal was anderes, so zur Abwechslung«, räumt der Barmann ein, der jetzt nicht mehr nur rustikal ist, sondern auch
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