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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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stand, verwandelte er sich in einen erbarmungslosen Geißler der lokalen Verderbtheit und einen grimmigen Savonarola, der allerdings unüberhörbar aus der Provinz Avellino stammte. Und wenn er inmitten seines mystischen Furors Grammatik und Manieren vergaß und uns Spucke und Verwünschungen entgegenschleuderte, vermischt mit in seinem Dialekt kaum verständlichen, aber dennoch grauenerregenden Wörtern - Gottesstrafe, Gräuel, Katastrophe, Toood, Gemetzel, Krieg, Seuchen, Erdbeeeben, Drangsal und Bluuut, viel Bluuut, ganze Ströme von Bluuut, ganze Meere von Bluuut! -, dann blickten wir uns, jeder Einzelne von der eigenen Unschuld überzeugt, im Halbdämmer der Kirche um und unterzogen die Menge einer strengen Prüfung auf der Suche nach Sündern, die so böse waren, dass sie diese furchtbaren Strafen verdienten. Da wir sie nicht fanden, stießen wir einen Seufzer der Erleichterung aus und warteten auf das Ende, das immer dann kam, wenn man es am wenigsten erwartete. Nach einem heftigen Ringen spuckte er das amtliche Ammen aus, auf das der männliche Teil des Kirchenvolks mit jener anderen Geste antwortete und sich an den Hosenschlitz griff. Ihm zuzusehen, wie er - ständig in Gefahr herunterzufallen - auf dem hohen metaphysischen Postament herumfuchtelte, war immerhin eines der seltenen Spektakel in einem Kaff, das kein Theater hatte, selbst vom schäbigsten Zirkus links liegen gelassen wurde und pro Woche nur eine Kinovorführung erlebte, und das in einer Ära, in der Fernsehen noch ein Luxus für wenige war - mein Glück, dass ich zu jenen wenigen gehörte.

    Nach dem Einsturz der Klassenzimmerdecke begann die Periode der doppelten Unterrichtsschicht. Meine Klasse wurde der Nachmittagsschicht zugeteilt. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, war es schon fast dunkel. Schwere Wolken verdeckten die Sonnenstrahlen und segelten drohend über das graue Land hinweg. Der Wind blies so stark, dass ich mich gegen ihn stemmen musste. Da ich das Gesetz der Schwerkraft nicht kannte, lief ich so schief wie in den Zeichentrickfilmen, die ich schon bald in der Kindersendung Tivù dei ragazzi zu sehen bekommen sollte. Aber es war ein anderes Fernsehprogramm, dem ich die ganze Woche entgegenfieberte und das mich in Rekordzeit nach Hause rennen ließ. Noch im Mantel setzte ich mich vor den Fernseher, tunkte das mit einer rosa und braunen Creme - einer Art Nutella, nur ekliger und billiger - bestrichene Brot in die Milch, die mir Tante Ines auf den Tisch gestellt hatte, und wartete, bis der gebogene Steven des Kanus erschien - was hätte ich darum gegeben, ein solches zu besitzen! Ein Pionier tauchte das Paddel ins Wasser, das dickflüssig wie Öl zwischen zwei zugefrorenen Ufern dahinfloss, und eine Stimme intonierte jene melancholische Fischerballade, die aus ein paar Silben - turlette tete tete turlette turlette - und einigen wenigen französischen Versen bestand. Wenn auf dem Bildschirm der Titel Auf dem Sankt-Lorenz-Strom aufflackerte, war ich schon dort, auf diesem legendären, wunderbaren Fluss, der so unendlich lang war und so unermesslich weit wie das Meer. Die Titel der einzelnen Folgen - »Die Rentierjäger«, »Das Lied des Weges, der geht«, »Das Land des Jacques Cartier«, »Der Kopf des Wals«, »Der kanadische Diamant«, »Die Pioniere der Bucht« - kündigten jedes Mal ein großartiges Abenteuer an. In meiner Phantasie sah ich mich selbst mit einer Harpune in einem Kanu oder im Wald, in Gesellschaft meiner treuen Winchester, auf der Lauer liegen, oder ich stellte mir vor, wie ich mir mit einer Nadel aus Walfischknochen aus einem Rentierfell ein Tipi nähte und es mit farbigen wam-pum im unverfälschten Algonkin-Stil verzierte. Ich starrte auf den weiten Horizont der Steppen, der genauso trostlos war wie der, den ich auf meinem
Heimweg von der Schule gesehen hatte, und in der Aufregung, die das zu wenigen, gravitätischen Gitarrenakkorden wiederholte Lied in mir auslöste, nahm ich mich selbst und meine Mitbürger so wahr wie jene Pioniere. Auch wir lebten in einer von Gott und den meisten Menschen verlassenen Ödnis, auch wir kämpften gegen eine undankbare und wilde Natur. Folglich waren auch wir, genau wie Jacques Cartier, Helden .
    Danach ging ich auf mein Zimmer, und obwohl ich meine Schulbücher aufgeschlagen hatte, beobachtete ich die letzten Strahlen der Sonne, die durch die schwarze Wolkendecke stießen, während der Wind den Nebel im Tal zu einem stürmischen, aber dennoch unbeweglichen Meer zerfetzte

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