Ferne Verwandte
angehaltenem Atem das Album auf. Immer wieder sehe ich mir die Fotos an, vom ersten bis zum letzten. Ich studiere sie regelrecht. Die funkelnde Blondine erscheint noch zweimal, und jedes Mal steht ein Fragezeichen am Rand - die arme Mamma. Ich lese auch die Briefe, dieselben, die sie mir einst mit Tränen in den Augen in unserem großen Bett vorgelesen hat. Und jetzt bin ich es, der weint. Ich lasse die Augen langsam über die Worte wandern und überlege, was aus meinem Leben geworden wäre, wenn dieses Flugzeug nicht abgestürzt wäre. Bis jetzt hatte ich immer Nonnilde recht gegeben: Ich kannte nur den Schmerz meiner Mutter, die Traurigkeit der verschmähten Ehefrau, aber jetzt, da ich meinen Vater vor mir habe, ist er so schön, so fröhlich, so elegant, so anders als auf den Familienfotos mit der Großmutter, dieser schrecklichen Parze, die das Schicksal jedes Menschen zerstörte, der in ihre Reichweite kam, was gegenwärtig vor allem mich betraf. Nun aber frage ich mich, welcher Mann, der in diesem tristen Nest geboren wurde, noch dazu von einer Mutter
wie Nonnilde, nicht dieselbe Wahl getroffen hätte wie er, und bin mir plötzlich ganz sicher, dass auch mein Platz dort ist, in Amerika. Pit hatte wirklich recht. Onkel Richard würde mich mit offenen Armen empfangen. Man merkte an der Art, wie er Papà auf den Fotos ansah, dass er ihn sehr gernhatte, und das würde auch für mich gelten. Nur, wer bringt das der Großmutter bei? Aber warum sollte ich es ihr eigentlich sagen? Ich werde volljährig, und weg bin ich. Wer schert sich um sie? In der Zwischenzeit muss ich zuallererst Englisch lernen, auch da hatte Pit recht. Sein Lehrbuch habe ich allerdings auf dem Land zurückgelassen. Eines Tages, als der Lehrer mir als dem Klassensprecher befiehlt, das Klassenbuch zu holen, das er im Direktorat vergessen hat, bemerke ich eine in Wachstuch eingeschlagene Schachtel voller Schallplatten, auf der Complete English Course steht, und trage eine nach der anderen nach Hause.
Ich höre sie mir heimlich auf Großvater Carlos altem Trichtergrammofon an - mit dem Finger verlangsame ich die zu hohe Drehgeschwindigkeit -, und zwar im letzten und abgelegensten Zimmer, in dem Tante Ines die wenigen Erinnerungen an ihren Vater zusammengetragen hat (vier Sättel, sechs Büchsen, eine davon mit Silber verziert, seine Pfeifensammlung, seine Taschenuhren, seinen liebsten Jägerrock, einen wurmstichigen Zylinder, drei Abendanzüge), um sie der ikonoklastischen Raserei Nonnildes zu entziehen, die alles, was nicht direkt verwertbar ist, für nutzlos hält. Am oberen Ende einer Treppe mit hohen Stufen gelegen, wurde dieser Raum, der mit seinem Spitzbogengewölbe und den rissigen Wänden an eine kleine gotische Kapelle erinnerte, meine heimliche Zufluchtsstätte. Die Stimme vom Grammofon vermischte sich mit dem Krächzen der Krähen hinter dem Bogenfenster, während ich mich, umgeben von der Vergangenheit, bemühte, in die Zukunft zu fliehen. Doch nicht einmal dort konnte ich vor der Großmutter sicher sein. Sie hatte ihren Schraubstock nicht im Geringsten gelockert. Im Gegenteil.
Manchmal brach sie mitten in der Nacht in mein Zimmer ein, dann musste ich sie zum Backofen begleiten. »Im Haushalt der Familie
kommt es auch auf ein einzelnes Kilo Mehl an, merk dir das!«, sagte sie, während sie, die Hände in die Hüften gestemmt, das Brotbacken überwachte. Zum Glück fand sie immer irgendjemanden, mit dem sie herumstreiten konnte, und ich flüchtete mich in einen verborgenen Winkel, schlief auf einem Mehlsack ein oder, wenn ich Pech hatte, auf der bloßen Erde inmitten der Holzspäne. Noch häufiger allerdings kam sie mich am Nachmittag holen. Aus meinem heimlichen Versteck hörte ich ihre Stimme wie die Klage eines Gespenstes - »Carliii, Carliii!« - und stürzte die Treppe hinunter. Ich holte tief Luft, bevor ich mich ihr stellte, aber das war nicht nötig. Sie ließ mir gar keine Zeit, mich zu rechtfertigen, sondern packte mich am Ohr, warf mir meinen Mantel zu, und ich musste ihr überallhin folgen, wo sie mich hinbringen wollte. »Großmutter, ich bitte dich, lass mich lernen. Was soll ich sonst morgen dem Lehrer sagen?«, hatte ich sie bei einem der ersten Male angefleht. »Es gibt im Leben anderes zu lernen als das, was in den Büchern steht«, hatte sie mir geantwortet. Jetzt hasste ich sie regelrecht und suchte verzweifelt nach einem Vorwand, der mich von ihr fernhalten würde, aber die Schule reichte dafür, wie sich erwiesen
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