Ferne Verwandte
ersten Krug unter das Fass und drehe den Zapfhahn auf. Es kommt ein Strahl heraus, aber mit welch quälender Langsamkeit! Während ich warte, betrachte ich die Wandregale voller Spinnweben, Töpfe und Flaschen. In einer Ecke liegt ein eigenartiger Glaszylinder mit Mess-Skala und Plastikpumpe: ein Klistier. Eine Vitrine ohne Türen ist vollgestopft mit vergilbten Zeitschriften, Blechdosen, verrostetem Besteck, nicht mehr im Umlauf befindlichen Münzen, verbogenen Brillen, kleinen Heiligenstatuetten und einem Bild von Jesus mit durchbohrtem Herzen hinter einer zerbrochenen Glasscheibe. Ich versuche, die Schublade unten aufzuziehen, und benutze ein Messer als Hebel. Dort drinnen finde ich das Album.
Es hat einen Einband aus grünem Leder mit einer Lilie in der Mitte; es ist die Lilie von Florenz. Das erste Foto zeigt die Mamma mit mir im Arm. Ihrem Gesicht nach zu schließen - einem blassen, aber zufriedenen Gesicht -, muss ich gerade zur Welt gekommen sein. Auch ich sehe nicht sonderlich gesund aus. Ich blättere um und sehe meinen Vater im Smoking, wie er ein Glas zum Toast erhebt. Ich betrachte sein forciertes Lächeln und die Zigarette, die im Aschenbecher auf dem Tisch vor sich hin qualmt. Ich blättere
weiter, und da ist immer noch Papà, immer noch bei einem großen Diner - vielleicht demselben -, aber dieses Mal sieht man die Gesichter der Leute, die um ihn herum sitzen. Neben ihm ein Herr mit einem großen weißhaarigen Kopf. Darüber steht handschriftlich die Erklärung: Onkel Ricard . Das wird wohl die Mamma geschrieben haben - Großvater Ferruccio wollte lieber, dass sie sticken lernt, statt weiter zur Schule zu gehen. Auf der anderen Seite eine Blondine, die Haare onduliert wie die einer Schauspielerin, Augen, die mit den Steinen ihrer Kette um die Wette funkeln, lange Samthandschuhe - über ihr steht ein Fragezeichen. Dann Tante Kathryn, Onkel Richards Frau, neben einem jungen Paar mit nervösem Blick - »Cusin Uilliam und seine Frau Sara«, erläutert die wackelige Handschrift der Mamma. Dieselben in einer anderen Pose, zusammen mit »Charls junior, ihrem sechsjärigen Son«. Ich merke, dass der Wein inzwischen auf den Boden tropft, laufe zum Fass und stelle den zweiten Krug darunter. Dann blättere ich weiter. Mein Vater in seinem großen Büro, bei einem Spaziergang unter den Wolkenkratzern von New York, beim Golfspielen, unterwegs in seiner Corvette - es gelingt mir, den Markennamen auf der Seitenwand zu entziffern -, und inzwischen ist auch der zweite Krug voll. Ich sehe den Stoß Briefe auf der letzten Seite, bevor ich das Album wieder in der Schublade verschließe. Mit einigen der vergilbten Zeitschriften wische ich den Fußboden trocken und laufe nach oben.
»Du hast aber lange gebraucht«, knurrte die Großmutter, und tatsächlich, als ich sie nun ansah, ganz in Schwarz und herausgeputzt wie eine Zarin, und als ich auch die vor Kälte bleichen Gesichter meiner Verwandten sah - in ihre Mäntel eingemummelt erinnerten sie an die Flüchtlinge des Ersten Weltkriegs, wie sie auf einem der Drucke von Großvater Carlo abgebildet waren -, da hatte ich noch derart den Glanz der Fotos vom Babbo in Amerika vor Augen, dass es mir tatsächlich so vorkam, als wäre sehr viel Zeit vergangen. Als hätte mich eine jener Hexereien, denen die Helden meiner Romane zum Opfer fielen, in eine ferne und schreckliche
Epoche zurückversetzt, aus der ich, wie mir jetzt bewusst wurde, so schnell wie möglich fliehen wollte, wartete ich ab, bis alle im Bett waren, und kehrte in den Keller zurück.
Das Album war noch dort, wo ich es zurückgelassen hatte. Ich presste es an meine Brust und stieg eilends in mein Zimmer hinauf. Mindestens eine Stunde verbrachte ich damit, einen Platz zu finden, wo ich es verstecken könnte, falls die Großmutter hereinkäme, und als ich glaubte, ihn gefunden zu haben - ich schob es hinter die Kommode, wie Tea ihre James-Bond-Bücher -, belebte sich das Haus schon wieder. Ich erinnere mich an keinen Nachmittag, der länger gedauert hätte als dieser. Kreuz und quer gehe ich durch das Zimmer und kontrolliere aus allen möglichen Winkeln, ob die Kommode ihr Geheimnis auch gut bewahrt. Bei jedem noch so kleinen Geräusch draußen zucke ich zusammen. Obwohl ich keinen Hunger habe, schlinge ich das Abendessen atemlos hinunter. Dann schlafen endlich alle, und ich kann meinen Schatz hervorholen. Ich zünde eine Kerze an - das Licht der Lampe könnte Nonnildes Verdacht erregen - und schlage mit
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