Ferne Verwandte
waren diese seltsamen Predigten - in Wirklichkeit handelte es sich um die absonderlichsten Abenteuergeschichten - auch schon an ihr Ende gelangt. Die aufgestaute Spannung löste sich auf in eine gerührte Hymne auf den Herrn, und meine schlechten Gedanken verflüchtigten sich. Gestärkt im Glauben, war ich zum Märtyrertod bereit - hin und wieder fraßen die Eingeborenen vor ihrer Bekehrung einen Combonianer auf - und zu diesem Zwecke sogar gewillt, auf Amerika zu verzichten. Doch mein Schicksal sollte ein anderes sein.
Wie all die anderen Ministranten - wir waren ein hübsches Häuflein, mit unseren abgetragenen Chorhemden, den kurzen Hosen darunter und den geschorenen Köpfen darüber - gierte ich danach, als Messdiener am Altar zu dienen, ja, aufgrund meiner heimlichen Berufung galt das für mich vielleicht sogar noch mehr als für alle anderen. Da ich ein armes Waisenkind war, gab Don Silvestro meinem Wunsch oft nach - heißt es denn nicht im Evangelium: »Selig die Betrübten, denn sie werden getröstet werden«? -, und wann immer das geschah, war ich so aufgeregt, dass ich nur kurze Zeit stocksteif am Altar stehen musste, um schon ein heftiges Rumoren in meinen Gedärmen zu verspüren. Mehr als einmal wurde die Stille des Offertoriums durch einen meiner ausgiebigen Fürze unterbrochen, und mehr als einmal hatte ich mich von meinem frommen Dienstposten entfernen müssen, um die Toilette aufzusuchen, ein Plumpsklo gleich außerhalb der Sakristei. Bei einer dieser Gelegenheiten war ich sogar mit einem Fuß darin ausgerutscht und hatte,
da ich mich bis zum Knie mit Scheiße besudelt hatte, schleunigst nach Hause verschwinden müssen. So kam es, dass der Erzpriester mir schweren Herzens eine andere Aufgabe zuwies: den Blasebalg der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Orgel zu bedienen nämlich, weil in der Nähe dieses gewaltigen Klangerzeugers der von mir produzierte Krach gewiss übertönt werden würde. Der Gedanke, dass ich Pits Schicksal, der ebenfalls für die geistliche Laufbahn als ungeeignet beurteilt worden war, nun mit ihm teilte, wenngleich in seinem Fall, wie ich mir vorstellte, weniger demütigende Gründe den Ausschlag gegeben hatten, linderte meine Bitterkeit. Dies umso mehr, als meine neue Aufgabe mich nicht nur vom Rampenlicht des Altars fernhielt, sondern mich darüber hinaus in die Nähe von Medoro Sarchione, dem Organisten, zwang.
Hochgewachsen, krummer Rücken, blasses Gesicht und bleiche Lippen, dazu dunkle Brillengläser unter einem Büschel vorzeitig weiß gewordener Haare - mehr als an alles andere erinnert Medoro an ein glitschiges Tiefseewesen. Dabei ist er freundlich und mir nach einiger Zeit schon weniger zuwider. Ja, während ich die Hebel des Blasebalgs betätige, ihn von meinem Standpunkt aus beobachte und zusehe, wie seine wächsernen Finger über die Tasten gleiten und ihnen zu Herzen gehende Töne entlocken, beschließe ich, ebenfalls Musiker zu werden. ›Hat nicht auch Bach so angefangen? ‹, frage ich mich, während ich vom Chor aus meine Ex-Kollegen betrachte und mich ihnen, meiner neuen, prestigeträchtigeren Berufung gemäß, um einiges überlegen wähne. Welcher Heilige kann es schon mit dem Ruhm eines Künstlers aufnehmen?
Meine Visionen verschwanden mit derselben Leichtigkeit, mit der sie aufgetaucht waren. Am Anfang tat es mir ein bisschen leid, denn die Mattigkeit, die sie gespendet hatten, war ein so süßes Gefühl gewesen, aber die Musik hat eine ähnliche Wirkung, und außerdem steht sie meinem anderen großen Traum nicht im Wege. Ich sehe mich schon, kaum in Amerika gelandet, zusammen mit Pit in Frank Sinatras Orchester spielen. Sobald ich mit meinen Hausaufgaben und meiner täglichen Englischstunde fertig bin,
begebe ich mich also direkt in die Kirche. Außer dem Orgelpositiv aus dem 18. Jahrhundert, das man verständlicherweise nicht allein spielen kann, gibt es noch ein schepperndes Harmonium. Ich trete das Pedal und pumpe Luft, und meine Finger gleiten wie die von Medoro über die abgewetzten Tasten, und so unglaublich das ist - was dabei herauskommt, ist echte Musik: Kirchenlieder, aber vor allem die Schlager vom letzten Festival in Sanremo und aus dem Radio. Tagelang mache ich so weiter, bis ich eines Nachmittags Piangi con me spiele - »Weine mit mir«, und ich spiele es nicht einmal übel, muss ich sagen -, als sich plötzlich eine kalte Hand auf meinen Nacken legt. Ich springe auf und denke sofort an ein Gespenst. Die Kirche ist zu dieser Stunde
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