Ferne Verwandte
vieler junger Leute generell, die keine andere Spur hinterlassen haben, als die auf diesen schimmeligen Seiten, bevor sie dann wieder in dem Nichts verschwanden, das uns allen vom Schicksal vorherbestimmt ist. Während Medoro blättert, redet er auf mich ein. »Stell dir vor, wenn, wie es geschrieben steht, am Tag des Jüngsten Gerichts die Seelen all jener Verstorbenen wieder in ihre Leiber zurückkehren würden! Was würde dann effektiv passieren? Und hier sind wir ja nur in einem Dorf! Was würde in der Welt geschehen, was würden sie essen, bei der Arbeitslosigkeit, die rundum herrscht? Wo sind außerdem diese Leiber, die schon nach höchstens fünfzig Jahren aus den Friedhöfen verschwinden, um den Nachrückern Platz zu machen? Nein, da ist die Religion der Hindus effektiv logischer.«
Er erläutert mir die Seelenwanderung und dass er Stunden damit verbringt, die Archive des Klosters zu durchstöbern, um seinen »ihm innewohnenden Ahnen«, wie er es nennt, zu suchen, oder den Besitzer jener Seele, die in ihm inkarniert ist. »Ich bin
effektiv überzeugt, dass es einer von hier sein muss. Wie sonst könnte man es sich erklären, dass ich so sehr an dieses Dorf gebunden bin? Stell dir vor, dass ich sogar die Kutte abgelegt habe, nur um nicht von hier wegzumüssen - und sobald ich ihn gelesen habe, diesen Namen, werde ich innen eine Vibration spüren, hoffentlich eine positive.« Auf seiner Suche hat er eine überaus wichtige Entdeckung gemacht, dass nämlich ausgerechnet hier bei uns die Ritter des Templerordens Zuflucht gefunden haben! Er nimmt ein Zettelchen aus einem alten Notizbuch, auf das er eine Liste geschrieben hat: »Francesco di Nantessa, Rosario Tirabusciò, Giovanni Sciampagnone, Rodolfo Bosgé.« Er starrt mir in die Augen und sagt: »Komische Namen, findest du nicht? Es gibt sonst keine von dieser Art, das kannst du nachprüfen. Es wäre auch gar nicht möglich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es Franzosen sind. Die ursprüngliche Schreibweise ist italianisiert worden. Zum Beispiel ist dieser Di Nantessa in Wirklichkeit einer aus ›Nantes‹, Sciampagnone, also Champagn…, na, wo der herstammt, da kommst du selber drauf. Aber am interessantesten ist dieser Rodolfo Bosgé.« Er legt eine geheimnisvolle Pause ein, nickt dann und sagt: »Du musst wissen, dass der Großmeister Guillaume de Molay, als er das Ende des Ordens vorhersah, seine Reliquien und, jetzt hör gut zu, vor allem den märchenhaften Schatz seinem Neffen anvertrauen wollte. Und wie hat dieser Neffe effektiv geheißen?«
Er zieht die Brille nach unten, um mich besser beobachten zu können - seine Augen sind blutunterlaufen, und obwohl wir uns täglich sehen, machen sie mir immer noch Angst -, und buchstabiert: » B-e-a-u-j-e-u , verstehst du: Beau-jeu , was im Französischen so klingt wie ›Bosgé‹, wie sie es hier geschrieben haben. Den Taufnamen müsste ich irgendwo verifizieren, aber wegen der Aussprache habe ich keinen Zweifel: Effektiv kann ich Latein und Griechisch, aber mit den modernen Sprachen bin ich nicht vertraut, und ich habe mir von Pier Pignàc sagen lassen …«
»Ein Tempelritter?«, unterbreche ich ihn aufgeregt.
»Ach was … Pier Pignàc, der Bruder der Hebamme. Die Tempelritter waren ein Orden kriegerischer Mönche, der im 14. Jahrhundert aufgelöst wurde, du Ignorant.«
»Man kann ja nicht alles wissen, außerdem hat mich dieser komische Name in die Irre geführt.«
»Pier Pignàc? Ja, der ist effektiv komisch«, antwortet er und wird sich bewusst, dass seine Theorie kläglich ins Wanken gerät. »Aber das ist ja nur ein Spitzname«, schiebt er geistesgegenwärtig hinterher. »Pier Pignàc jedenfalls war zehn Jahre Kellner in Frankreich, und er hat mir garantiert, dass die Aussprache Bosgé ist, und wenn ich richtig liege, und ich liege richtig, dann ist es genau hier, wo der Bosgé den Schatz effektiv in einer … Höhle versteckt haben muss.«
Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Da hatte man mir eingeredet, dass mein Dorf ein von der Geschichte und der Welt vergessener Ort sei, aber nach dem, was Medoro mir verraten hat, und auch nach dem, was Pit mir über die Normannen erzählt hat, begreife ich, dass es in Wirklichkeit ein Kreuzungspunkt alter und edler Kulturen ist - wie es das Lehr- und Arbeitsbuch für die Grundschule im Zusammenhang mit anderen bedeutenden Orten nachweist. Wer käme auf diese Idee, wenn er den bunten Haufen der Bauern betrachtete, die jeden Sonntag vom Land
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