Ferne Verwandte
hierherkommen, um die Messe zu besuchen? Ich denke an die Grotten links und rechts des schmalen Pfads, den sie benutzen, an den geheimnisvollen Schatz, den diese Grotten beherbergen, und daran, wie ich ihn als neuer Aladin entdecke und zu Ruhm und Reichtum gelange. Schon wieder habe ich etwas, wovon ich träume: Außer Musiker werde ich vielleicht auch noch ein berühmter Archäologe! Unterdessen fügt Medoro, während er sich mit einem seiner violetten Taschentücher die Mundwinkel trocknet, hinzu: »Nur dass es Hunderte von Höhlen gibt, und viele sind so eng, dass kein Mensch hindurchpasst. Die einzige Möglichkeit wäre, dass man sie vermint und den Berg mitsamt dem ganzen Dorf aufsprengt: Darüber muss man effektiv nachdenken.« Nach dieser Feststellung
sieht sein Gesicht genauso aus wie in dem Moment, da sie ihn wegführen.
Es ist Sonntag, und die Kirche ist voll. Wie gewöhnlich bin ich an meinem Platz und betätige den Blasebalg. Medoro spielt beseelt, aber beim Te Deum beißt er sich irgendwann am C-Dur-Akkord fest. Ihm ist schlecht, denke ich, er ist tatsächlich noch aschfahler als sonst. Ich sehe ihn schon ohnmächtig auf die Tastatur sinken, als er plötzlich aufspringt und immer noch denselben Akkord in die Tasten haut, den Blick starr auf eines der zehn Bilder eines anonymen Malers aus dem 17. Jahrhundert gerichtet, auf das Bild, das zwischen zwei Fenstern im Mittelschiff hängt und eine kleine Gruppe von mit Speeren bewaffneten Engeln darstellt, die im Begriff sind, inmitten der leuchtend roten Flammen und der schwefelgelben Sturmwolken aus den Sündern einen Mixed Grill zuzubereiten. »He«, rufe ich, »weiter im Text!«, aber er hört mich nicht, starrt unentwegt auf das Bild und schreit plötzlich: »Ich sehe siiie!! Die Engel des Herrrrrn!! Sie kommen! Die Stunde des Gerichts hat geschlaaaagen! Effektiv!« Dann setzt er sich, geht endlich eine halbe Oktave nach unten, doch statt sich zu beruhigen, brüllt er: »Spiel mir was auf dem Akkordeon, brausend wie eine Orgel, und wir tanzen in den Himmel hinein« und so weiter und so fort. Für einen Pythagoreer und Rosenkreuzler, der zudem Schlager verabscheut, macht er seine Sache ganz gut, und er würde unverdrossen so fortfahren, wenn nicht vier oder fünf Gemeindemitglieder ihn mit Gewalt von der Tastatur reißen würden, und als ich seinen Platz einnehme, flöße ich den Gläubigen mit meinen ungeahnten musikalischen Künsten neuen Mut ein und denke über das nach, was soeben passiert ist. Aber ich wundere mich effektiv nicht: Medoro wohnt nicht nur auf der pessimistischen Bergseite, sondern er ist, und das wiegt schwerer, an dem Tag geboren, der, wie ich von ihm selbst gelernt habe, in puncto Gefährlichkeit nur von der Nacht des 24. Dezembers übertroffen wird, und das ist der 2. November. Und genau dieser Tag ist es, an dem ich meinen mir innewohnenden Ahnen finden sollte.
Es ist früh am Morgen, und die Großmutter platzt in mein Zimmer herein, aber in einer anderen Stimmung als sonst: Sie ist traurig, blass und schlapp. Mit einem Seufzer sagt sie: »Zieh deinen Mantel an, wir gehen hinaus.« Ich glaube zu wissen, warum sie so ist. Wir haben, wie gesagt, den 2. November, Allerseelentag. Sie hat ihren Mann, einige Sprösslinge im Kleinkindalter und ihren geliebten Enrico, meinen Vater, unter die Erde gebracht, von der Schwiegertochter, meiner Mutter, und den eigenen Eltern ganz zu schweigen, wobei Letzteres für eine Person ihres Alters jedoch normal ist. So wappne ich mich für den traurigen Besuch auf dem Friedhof. Doch sobald wir aus dem Haus sind - wir haben kaum zehn Meter zurückgelegt -, sehe ich, wie sie vor der steilen Treppe stehen bleibt, an deren oberem Ende sich jene winzige Tür befindet, die ich immer nur geschlossen gesehen habe. Aus ihrer Manteltasche zieht sie den Ring mit den Schlüsseln, mit denen sie die neuralgischen Punkte des Hauses - Vorratskammern, Kommoden, Vitrinen und Zimmer, zu denen nur sie Zugang hat - unter Verschluss hält. Tastend sucht sie einen heraus und sagt: »Schließ auf, es ist so dunkel.«
Ich öffne und finde mich plötzlich in einem unglaublichen, wundervollen Basar wieder. An den Wänden hängen Köpfe von Löwen, Antilopen und Leoparden, außerdem Pistolen und Lanzen, mit denen vielleicht getötet wurde. Auf den Möbeln, deren Ledereinlagen mit Arabesken verziert sind, stehen Wasserpfeifen, Fetische, Idole aus Ebenholz und Fläschchen, in denen seltsame, schuppige Tiere schwimmen. Dann gibt es
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