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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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hier Teppiche, jede Menge Teppiche. Und mitten im Saal sticht das Porträt von Onkel Arcangelo in Legionärsuniform heraus, mit einer riesigen, um den Helm gebundenen Brille und einem Tüchlein um den Hals. Es ist dasselbe Foto, nur in Vergrößerung, das Nonnilde zusammen mit dem Bild des Babbo, der Mamma und der unzähligen anderen Verblichenen auf ihrer Kommode stehen hat, aber nicht dorthin geht sie, um die beiden roten Kerzen anzuzünden, die sie aus der Tasche gezogen hat. Nein, sie steuert auf eine Etagere zu, auf der ein flacher Behälter liegt. Davor stellt sie die Kerzen ab. Ich trete näher und erkenne hinter
der mit Fliegendreck verkrusteten Glasscheibe des Kästchens einen langen Knochen, schwarz und angenagt. Nonnilde hält das brennende Zündholz so, dass ich besser sehen kann: »Onkel Arcangelo«, sagt sie und bricht in heftiges Weinen aus - tatsächlich, es handelt sich um Onkel Arcangelos Schienbein, das Einzige, was von ihm übrig geblieben ist. Immer noch in Tränen aufgelöst, erzählt sie mir, wie ihr Bruder, der sich aus irgendeinem Grund von seiner auf Kamelen reitenden Truppe entfernt hatte, auf mysteriöse Weise verschwunden und dann ein paar Tage später bei einem Festmahl rebellischer Neger als Speise wieder aufgefunden worden war.
    Dass von Onkel Arcangelo nur ein Schienbein übrig geblieben ist, kommt mir nicht einmal merkwürdig vor. Wie ich ja schon aus den Erzählungen der Combonianermissionare weiß, mögen die Menschenfresser in Afrika nicht nur das Fleisch ihrer Opfer, und zwar in den verschiedensten Zubereitungsarten - gekocht, geröstet, aber auch geräuchert oder mit einer guten Sauce aus pili-pili , einer pikanten Chilischote, die ähnlich schmeckt wie unsere süditalienischen Peperoni -, sondern lieben es darüber hinaus auch über alles, die Knochen aufzuknabbern, um das Mark herauszusaugen, das zusammen mit dem Fett, das die Nieren umgibt, und jenem, das sich in Handflächen, Fußsohlen und Augenhöhlen befindet, als die feinste aller Delikatessen gilt. Und während ich so über die armseligen Überreste meines Verwandten nachdenke, fällt mir als Erstes ein, dass Medoro zwar unbestreitbar plemplem war, aber doch wirklich recht hatte: Wie würde es Onkel Arcangelos Seele am Jüngsten Tag schaffen, in den eigenen Leib zurückzukehren, angesichts des wenigen, das von diesem übrig geblieben ist? Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Großmutter so verzweifelt weint, denn ich habe nie gesehen, dass sie das für irgendeinen anderen ihrer Verstorbenen getan hätte. Es ist tatsächlich seltsam, sie »Arcan-ge-looo, mein Bruuu-der-herz!« schluchzen zu hören.
    Auch ich bin bewegt, um ehrlich zu sein, aber nicht aus Kummer. Nein, es hat mit einer »Vibration« zu tun, die ich verspüre, einer Vibration, die wie ein Beben immer stärker wird, als ich, ohne
es bewusst zu wollen, das violett- und goldfarbene Holz des Behälters streichle, und das ist zweifellos der Moment, in dem sich Onkel Arcangelo in meiner Person reinkarniert. Beinahe hätte ich Nonnilde umarmt und ihr gesagt, dass sie nicht traurig sein soll, dass die Seele ihres geliebten Bruders gemäß alter Hindulehren in mir weiterlebt - soeben hatte ich den Beweis dafür erhalten -, doch da dreht sie sich schon um und gebietet kühl: »Gehen wir!«
    Sie führt mich zum Friedhof, aber über einen Weg, der ganz uns allein gehört. Ich folge ihr durch den Korridor mit der niedrigen Decke, dann eine steile Treppe hinunter, die an der Tür mit dem Spitzbogen endet, welche man vom Garten aus sieht. Draußen ist der Himmel blau, und eine Wolke in der Gestalt einer Galeone segelt darüber hinweg, angetrieben von einem Wind, der die Spitzen der Zypressen hin und her hüpfen lässt wie die Zeiger eines defekten Zählers. Die Großmutter fingert jetzt im Sonnenlicht an ihrem Schlüsselring herum und sperrt das kleine Tor auf, das auf den Pfad geht, der von unserem Haus am Dorf entlangführt. Bis zu der kleinen Gabelung an dem Felsen, wo die heilige Barbara liegt - ich meine die Ruinen der Barbara-Kirche, deren Ziegel von dem katastrophalen Blitz versengt worden waren -, ist der Weg einigermaßen bequem, aber dann verengt er sich, sodass wir hintereinander gehen müssen. Ich bemühe mich, das Tempo zu halten, weil ich nicht in den Abgrund schauen kann, auf die Bäume, die in Dreier- oder Vierergruppen aufgrund welchen Wunders auch immer in dem glatten Stein Wurzeln geschlagen haben und jetzt mit ihren wogenden Wipfeln versuchen,

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