Ferne Verwandte
mich nach unten zu ziehen. Jedes Mal, wenn ich diese Strecke gehen muss, sehe ich den von Blitzen durchzuckten Himmel wieder, die aufgebauschten Wolken, die um den grünen Regenschleier der Berge kreisen. Auch heute, bei so heiterem Wetter, vermeine ich das Dröhnen der Donnerschläge zu hören und die eisige Luft zu spüren, die durch den Tragekorb dringt. Ich habe mich darin zusammengekauert, im anderen Korb sitzt eine meiner zwanzig Cousinen, und wir sind an die Flanken eines Maultiers gebunden, das sich auf diesem Pfad abplagt. Am Anfang
ist es lustig - wie auf einer Schaukel, die uns auf dem Heimweg vom Land fröhlich schwanken lässt. Dann verfinstert sich der Himmel, meine Tanten schreien im Regen, der unsere Haare durchnässt, und plötzlich ist es, als würde das Maultier sich aufbäumen. Ich werde auf den Boden des Korbes geschleudert und wie auf einem Schiff in stürmischer See durchgerüttelt, und als es mir gelingt, mich am Korbrand hochzuziehen - immer auf der Hut vor den piekenden Weidenruten, die an die Dornen in der Krone des Nazareners erinnern -, und mir klar wird, dass ich praktisch über einem Abgrund schwebe, mache ich mir vor Angst in die Hose. Seither leide ich unter Schwindelgefühlen, und das bedrückt mich zurzeit sehr: Wie soll ich nach Amerika kommen, wenn ich nicht einmal im Traum daran denken kann, das Flugzeug zu nehmen - zumal ich meine Mamma und meinen Babbo durch ein Flugzeugunglück verloren habe? Auch das Schiff stellt wegen des »Hochseecharakters« meiner kindlichen Ängste keine beruhigende Alternative dar. So gehe ich traurig an der Mauer entlang, bis ich eine zweite Gabelung passiere, wo sich der Weg, der ins Tal hinunterführt, verbreitert und in eine richtige gepflasterte Straße mündet.
Noch zehn Minuten, und wir sind auf dem Friedhof. Dort wird die Großmutter nicht von Rührung überwältigt, was merkwürdig ist, wenn man sich vergegenwärtigt, dass von meiner Mamma und vor allem von Enrico, meinem Vater, ihrem vergötterten Sohn, nicht einmal ein Schienbein gefunden wurde - über ihren leeren Grabnischen sind nur ihre Fotos angebracht. Was hätte auch übrig bleiben sollen von zwei Körpern, die zusammen mit weiteren neunundvierzig Passagieren in einer Höhe von tausend Metern gegen einen Berg geprallt und dann in einem Aluminiumrumpf, der sich nur noch in einen grauenhaften Fleischwolf verwandeln konnte, auf dem Ozean zerschellt sind? Bestenfalls Brei, ähnlich dem stinkenden Futter, das ich während seines kurzen Lebens meinem Goldfisch gegeben habe, diesem letzten Geschenk von Tante Ines zu meinen goldenen Zeiten, und diesen Brei hätten wohl nicht einmal die Haie den kleineren Fischen wegschnappen wollen. Nein,
Medoros triftiger Einwand gegen die Möglichkeit einer leiblichen Auferstehung der Seelen war gewiss nicht der Grund dafür, dass die Großmutter so bitterlich vor Onkel Arcangelos Schienbein geweint hatte. In der Familienkapelle verweilt sie gerade einmal lange genug, um ein paar Kerzen anzuzünden, dann ist sie auch schon wieder draußen, um die Huldigungen ihrer Muschiks entgegenzunehmen, welche sie wegen irgendeiner Arbeitsangelegenheit oder wegen irgendetwas anderem tadelt, und schließlich geht sie mit ihrem Gutsherrinnenschritt nach Hause zurück, ich immer hinter ihr her.
Seit jenem Tag habe ich sie nie mehr auch nur eine einzige Träne hervorpressen sehen, und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein. Zu wissen, dass die tragischsten Widrigkeiten, die schrecklichsten Katastrophen, jene Ereignisse also, die jeden in die Knie zwingen würden, meiner Gebieterin und Tyrannin nichts anhaben konnten, war einer der wenigen Fixpunkte in meinem Leben - trotz der damit verbundenen Belastung war es vielleicht sogar der wichtigste, denn ich hätte den Gedanken nicht ertragen können, dass selbst sie in ihrem Innersten einen Rest jener Fragilität verbarg, die ich in allen anderen und vor allem in mir selbst erkannte.
Onkel Arcangelos Allerheiligstes wurde jedenfalls ein weiteres Refugium für mich - das heimlichste und das liebste. Ich hatte einen Weg über die Dächer entdeckt, und in den mondhellen Nächten kletterte ich über die Loggia meines Zimmers dorthin, ja, ich zwang mich regelrecht dazu, weil ich sonst nie nach Amerika würde reisen können. Während sich alles um mich herum drehte, schleppte ich mich über die lockeren Dachziegel zu einer Luke mit einer eigenhändig von mir zerbrochenen Glasscheibe, ließ mich von dort in den afrikanischen Tempel
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