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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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ist. Renata starrt mich unentwegt an, bis ich die martialische Armbewegung wahrnehme, mit der ihr Vater, der Maresciallo, seine Uhr freilegt: Unabdingbare Dienstpflichten zwingen ihn wohl, das Fest zu verlassen. Seine Frau Gemahlin bringt es nicht über sich, ihn allein nach Hause zu schicken - sie ist eine so steife Aristokratin, dass sie keine Minute länger in dieser Bude voller verschwitzter Proleten bleiben will -, und die Tochter schließt sich ihnen an, nicht ohne mir noch einen letzten verführerischen Blick zuzuwerfen.
    Ein paar Stunden spielte ich die denkbar schrecklichste Musik und merkte es nicht einmal. Jetzt, da Renata mich liebte, hätte ich mich jeder Prüfung stellen können: Aus dem, was sie mit mir machte, konnte ich nur den Schluss ziehen, dass sie wirklich scharf auf mich war - wie ein lästiges Insekt verjagte ich den Gedanken, dass sie denn doch etwas zu »emanzipiert« sein könnte: Sie kam aus dem Norden, und dort haben sie bekanntlich eine andere Mentalität. Die ganze Zeit phantasierte ich, ob ich in der kalten Nacht an ihrem Haus vorbeigehen sollte. Vielleicht würde sie ja am Fenster auf mich warten, oder ich würde vielleicht hören, wie sie auf dem Klavier jene Melodien spielte, die ich ihr an diesem Abend gewidmet hatte. Welche der beiden Möglichkeiten würde mir wohl besser gefallen? In meiner Unschlüssigkeit malte ich mir die Zärtlichkeit unserer Blicke in der morgigen Messe aus, unser anschließendes Treffen, die Küsse, die wir austauschen würden. Ich fragte mich, wann ich sie heiraten würde, und dachte an die Zukunft, die in Amerika auf uns wartete, an unser Haus, unsere Kinder - und wie es ihre Eltern aus Treviso aufnehmen würden.
    Unterdessen herrschte eine Luft zum Schneiden - der Zigarettenqualm, die dampfenden Speisen, die unsichtbaren, aber penetranten körperlichen Ausdünstungen -, wirklich ekelhaft, und das offensichtlich nicht nur für mich. Auch die Gäste wurden plötzlich ungehalten, denn sie waren schließlich schon vier Stunden hier eingepfercht.
Es war nicht genug Besteck da, und das Essen kam nicht. Irgendwann war auch etwas anderes ausgegangen.
    An seinem Tisch fuchtelt der Bürgermeister-Apotheker bedrohlich herum. Ich beobachte die Szene, während ich gerade ein frisches Bier genieße. Es scheint das letzte gewesen zu sein, denn der Maître sucht, nachdem er etwas in die Sprechanlage gesagt hat, nervös den Saal nach einem Kellner ab, kommt dann forschen Schrittes auf mich zu und fragt mich, schon weniger forsch, ob ich ihm den Gefallen tun könne, einen Kasten Bier heraufzuholen.
    »Ich«, entgegne ich mit der geziemenden Entrüstung, »bin kein Lastenträger!« Was, wenn mich Renata sehen würde, oder, schlimmer noch, ihre bebrillte Mutter, oder, am allerschlimmsten, Nonnilde!
    »Ich bitte Sie, Maestro , heute ist unser erster Tag, und es geht etwas chaotisch zu. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen. Es ist ein Notfall«, sagt er.
    Also gut, aber nur, weil er das gesagt hat und Renata schon weg ist. Im unteren Stockwerk steht Imma immer noch hinter der Theke und bedient. Ihr Mann ist nicht zu sehen, so dicht ist er von Leuten mit Lotteriescheinen umringt. »Imma«, sage ich verärgert, »man hat mir gesagt, dass ich Bier holen soll.«
    »Das war ich. Da ist der Kasten, räum ihn voll«, sagt sie gebieterisch.
    ›So war das nicht vereinbart. Ich sollte nur für die Musik sorgen‹, hätte ich am liebsten geantwortet. ›Von mir aus. Wenn mein Schicksal es so vorsieht und du es von mir verlangst, nach allem, was zwischen uns gewesen ist. Andererseits, was ist eigentlich gewesen? Ich spiele also den Lastenträger für dich, was hab ich schon zu verlieren?‹, denke ich, bevor ich sie wie ein geprügelter Hund frage: »Wo sind die Flaschen?«
    »Da unten«, antwortet sie und öffnet mit der Fußspitze den Kühlschrank. Ich knie mich hin und fange an, die Flaschen in den Kasten zu stecken. Hin und wieder werfe ich einen Blick auf ihre Beine - sie hat ihre üblichen Netzstrümpfe an, die mich normalerweise
so aus der Fassung bringen. Es gelingt mir, einen Blick auf ihr konzentriertes Gesicht zu erhaschen, während sie die Gläser vollschenkt, die schmutzigen ins Spülbecken stellt und den Gästen sarkastische Antworten gibt. Dann geschieht etwas. An der Kasse ertönt eine Lachsalve, und die Stimmen an der Theke wandern in die entsprechende Richtung: eine starke Welle, die alles mit sich fortreißt. Ich sehe Immas linken Fuß über den

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