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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Autobus machte? Doch dann - ich hatte ihr wohl von einem Dutzend Stücke Kostproben geliefert, wobei sie bei den letzten fünf, die echte Tanzmelodien waren, die Arme naturgemäß schneller bewegte - hörte ich, wie sie eine Art Stöhnen von sich gab.
    Ohne mit dem Spielen aufzuhören, drehe ich mich um und sehe sie an. Auf ihrem Gesicht liegt der gleiche Ausdruck wie auf dem der verzückten heiligen Frauen auf den Gemälden im Kloster. Als sie bemerkt, dass ich sie anstarre, bohrt sie den Blick in meine Augen, schiebt das Kinn vor und fragt barsch: »Was gibt’s?« Ich zucke mit den Achseln, und sie geht auf ihren komatösen Ehemann zu. Während sie den Rollstuhl anschiebt, sagt sie: »Gut, wirklich gut … Also dann bis Samstagabend.«
    Es waren noch zwei Tage bis Samstagabend. Als ich eintraf, war ich völlig erledigt. Nicht vor Aufregung, warum auch? Ich spielte ja
schon ein Leben lang vor diesen Primitivlingen. Nein, es war wegen der unzähligen Wichsereien. Imma hatte es wohl unbewusst gemacht, aber ich spürte immer noch ihr Haargekräusel am Ellenbogen - und sah ihr Gesicht danach.
    Ich setze also wieder den Fuß ins Patriarca, wieder voller Erwartungen. Doch Imma kommt nicht einmal herauf. Sie begrüßt mich von hinter der Theke, im Blickfeld ihres Mannes, der auf den Tasten der Kasse herumhaut. Dort drängen sich viele Leute mit Tippscheinen in der Hand. So setze ich mich an die Farfisa, traurig und eingezwängt in den guten Anzug, den ich bei Teas Hochzeit und bei den Hochzeiten aller meiner Cousinen getragen habe. Ich beobachte den Maître und die Kellner, Leute von außerhalb, Absolventen der Hotelfachschule - Merenda als Mann von Welt hatte die Sache gleich richtig aufziehen wollen -, und allmählich trudeln die Gäste ein. Und dann sehe ich sie: Renata.
    Es ist das erste Mal seit jener magischen Nacht mit den New Trolls. Außer der Lungenentzündung hatte sie in der Zwischenzeit auch noch Mumps und Masern, aber jetzt ist sie noch bezaubernder, blass wie sie ist, in ihrem weißen, mit Silberpailletten bestickten Kleid. Ihr Vater in Galauniform, die Mutter hager und mit Brille am Kettchen; man sieht auf den ersten Blick, dass sie aus Treviso stammen - und ich spüre, dass ich Renata von ganzem Herzen liebe.
    Sie setzen sich an den Tisch des Bürgermeisters, der gleichzeitig auch der Dorfapotheker ist, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter Alba Chiara, meiner historischen Verehrerin seit Kindergartentagen. Anders als ihr Name vermuten lässt und obwohl sie kaum sechzehn ist, handelt es sich um einen veritablen Trampel von fast einem Zentner. Sie besucht ein Internat in Florenz, ist eigens anlässlich dieser Veranstaltung nach Hause gekommen und hat mich nie vergessen. Ich fange zu spielen an, und trotz des Ambientes - Neonlichter und Gäste, die sich den Bauch vollschlagen und Trinksprüche auf das neue Lokal ausbringen - bin ich hochinspiriert. Hin und wieder suche ich Renatas Blick, finde ihn aber
nicht. Sie scheint unser Cheek to Cheek beim MKπ100-Fest des Tasso und ihr stummes Versprechen vollkommen vergessen zu haben. Dafür fange ich Alba Chiaras Blick auf. Sie fixiert mich die ganze Zeit, und irgendwann sagt sie etwas zu Renata. Sie spricht von mir, da bin ich mir sicher.
    Ich schützte Gleichgültigkeit vor, beobachtete aber heimlich die Szene und die Veränderungen auf dem Gesicht meiner Geliebten. In ihren Augen glomm etwas, als auch sie mich jetzt anblickte und etwas zu ihrer Freundin sagte. Nun trottete Alba Chiara wie ein Bär auf mich zu, legte eine Hand auf die Bank der Farfisa-Orgel und fragte mich im sinnlichsten Ton, dessen sie mächtig war: »Carlì, spielst du für mich Piccol graand amoore ? Und für Renata Laitibì ?« Drei Jahre Privatschule in Florenz, und das war nun das Ergebnis! Natürlich lege ich, noch bevor der Abdruck ihrer verschwitzten Hand auf der Farfisa getrocknet ist, mit Laitibì los. Es ist nicht im Repertoire, aber ich kann es auswendig, Text inbegriffen. Ich spiele es fast, wie Chopin es gespielt hätte, wenn er sich in Paris an den kalten polnischen Winter erinnerte; mit derselben romantischen Inbrunst spiele ich es, und als ich Renata erneut ansehe, erkenne ich an der Art, wie sie zurückschaut, dass soeben ein Wunder geschehen ist. Dass die Frauen seltsam sind, wusste ich schon von Pit, aber dass sie so seltsam sind, kann ich kaum glauben. Ich hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken - wenn ich mich so geschmacklos

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