Fesseln der Erinnerung
brauchst du einen Polizisten?“, fragte Kaleb Nikita und setzte sich ihr gegenüber. „Wir haben schließlich nicht ohne Grund unsere Pfeilgarde.“
„Die Gardisten sind Mings Leute“, sagte Nikita. „Ich brauchte einen unabhängigen Kopf.“
Kaleb dachte an die permanenten Versuche, durch seine Schilde zu brechen und die fehlgeschlagenen Versuche, ihm im Medialnet zu folgen, wenn er unerkannt bleiben wollte. Er hätte schon vor Tagen das Spiel beenden und seine Verfolger stellen können – obwohl das bei ihren Fähigkeiten ziemlich viel Zeit und Kraft erfordert hätte – , aber es faszinierte ihn. Denn es gab nur eine einzige Gruppierung, die in der Lage war, allen Fallen auszuweichen, die er bislang gestellt hatte – und wenn diese Leute ihre Loyalität nun einem anderen zuwenden wollten …
„Du verlierst deine Leute“, sagte er zu Nikita, die anderen Gedanken behielt er lieber für sich.
„Diese Bemerkung setzt dich ganz oben auf die Liste der Verdächtigen.“
„Ganz im Gegenteil. Wir wissen doch beide, dass ich das Notwendige gern selbst erledige. Ich würde mich nie auf jemand anderen verlassen, der Fehler machen könnte.“
Nikita lehnte sich zurück, das war eine deutliche Ansage. „Ist dir irgendetwas an Henrys Verhalten aufgefallen?“
Er hatte nichts bemerkt, und es behagte ihm gar nicht, nicht auf dem Laufenden zu sein. „Sag mir, was du meinst.“
„Ich werde es dir besser zeigen.“ Sie drehte ihren Sessel zu dem flachen Monitor an der Wand, verdunkelte die Fenster und lud eine Weltkarte hoch. „Die roten Punkte kennzeichnen die Orte, an denen sich Henry in den letzten sechs Monaten aufgehalten hat. Die blauen zeigen bestimmte Vorfälle im selben Zeitraum.“
Um jeden roten Punkt häuften sich blaue.
„Die Zahl der Vorfälle ist insgesamt gestiegen“, sagte Kaleb. „Er könnte zufällig zur selben Zeit dort gewesen sein – aber ich gehe davon aus, dass es sich um gravierende Ereignisse handelt und du deshalb darauf gestoßen bist.“
„Die ersten fünf nicht“, sagte Nikita. „Wie du schon gesagt hast, gab es immer wieder hier und da kleinere Gewaltausbrüche, denen ich keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe. Doch alle anderen haben nichts mit Gewalttätigkeiten zu tun – höchstens mit Selbstverletzung.“
„Selbstmorde?“ Das weckte Kalebs Interesse. Selbstmord war kein Tabu bei den Medialen. Die Mehrheit derjenigen, deren geistige Muster vom sogenannten Normalen abwichen, gingen diesen Weg, statt sich rehabilitieren zu lassen. Doch es war höchst unwahrscheinlich, dass so viele Selbstmorde – mehr als zehn an jedem Ort – zufällig genau mit Henrys Anwesenheit zusammentrafen.
„Ich bin mir sicher, dass er die Taktik schon vorher angewendet hat“, sagte Nikita.
Kaleb stimmte ihr zu. Vor ein paar Monaten hatte es eine Reihe von Gewaltausbrüchen gegeben. In aller Öffentlichkeit hatte die Konditionierung von Medialen versagt. Und anscheinend waren alle Täter darauf programmiert gewesen, sich nach der Tat oder im Fall einer Festnahme selbst zu töten. „In letzter Zeit hat sein Verhalten aber daraufhin gedeutet, dass er seinen Irrtum eingesehen hat.“ Das konstante Feedback im Medialnet führte dazu, dass Gewalt stets noch mehr Gewalt nach sich zog. Ein tödlicher Kreislauf.
Nikita legte die Fernbedienung aus der Hand, löschte das Bild aber nicht. „Einige der Selbstmörder standen auf der Liste für eine baldige Rehabilitation. Auch die anderen waren dem Zusammenbruch nahe.“
„Dann könnte Henry der Ansicht sein, er würde durch seine Taten die Gewalt im Medialnet ausmerzen.“ Kaleb überlegte. „Könntest du mir das gesamte Informationsmaterial über die Selbstmorde zuschicken?“ Augenblicklich wurde ihm die Akte telepathisch übermittelt.
Nikita sah die Nachrichten auf ihrem Organizer durch, während er das Material sichtete.
„Er hat einen verwirrten, aber hochintelligenten Chemiker eliminiert“, sagte Kaleb, „außerdem zwei Spezialisten aus dem medizinischen Bereich und mindestens einen ausgebildeten Scharfschützen. Das fällt gleich auf den ersten Blick auf.“
„Es geht auch so weiter“, bestätigte Nikita. „Vielleicht meint er, so die Schwachen im Medialnet auszulöschen, aber er fördert nur das Mittelmaß.“
Kaleb sah sie an. „Vielleicht hat er auch noch nicht den Gedanken aufgegeben, ein gleichgeschaltetes Medialnet zu schaffen.“ Bevor sie abtrünnig geworden war, hatte die Wissenschaftlerin Ashaya Aleine kurz
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