Fesseln der Erinnerung
„Wir sind die letzte Bastion, wenn die Justiz die Opfer im Stich lässt.“
Max blieb vor den Fahrstuhltüren stehen, schirmte sie mit seinem Körper vor den Überwachungskameras ab. „Wie wirkt es sich auf einen J-Medialen aus, wenn er den Part der letzten Bastion … wenn notwendig sogar den des Henkers übernimmt?“
„Jede Kraft erzeugt eine Gegenkraft, die auf den Verursacher wirkt“, zitierte sie das Newtonsche Axiom. „Das gilt auch auf geistiger Ebene.“
Um Max’ Mund zogen sich weiße Linien. „Der J-Mediale trägt also selbst einen Schaden davon.“
„Nicht direkt einen Schaden. Ich würde sagen, es tritt eine … Veränderung ein.“
Max schwieg lange. „Du darfst das nicht mehr tun“, sagte er schließlich sehr leise. „Hast du mich verstanden, Sophia?“
Ihre Lippen zitterten kaum wahrnehmbar. „Max, willst du mich etwa wieder ganz machen?“ Das war unmöglich, und sie ertrug den Gedanken nicht, er könnte das zu spät erkennen und sich von ihr abwenden.
„Nein, ich will dich retten.“ Unmissverständlich. „Es geht um eine Entscheidung. Du musst gegen diese Instinkte ankämpfen – denn jedes Mal, wenn du ihnen nachgibst, stirbt ein Teil deiner Psyche.“
Das Andere in ihr – verbunden mit dunklen Strängen, die zum Medialnet zu führen schienen – bewegte sich, überlegte und beugte den Kopf. „Das kann ich.“ Für Max, nur für ihn. Er war Polizist. Er akzeptierte ihre Vergangenheit mit offenen Augen und einem offenen Herzen, doch was sie von nun an tat, würde auch auf ihn Rückwirkungen haben, seine Karriere beeinflussen, selbst wenn nur wenige ahnten, wie tief die Verbindung zwischen ihnen war – und das konnte sie nicht zulassen, denn sie war viel zu stolz auf ihn. „Diesen Preis zahle ich gerne, um mit dir zusammen zu sein.“
„Ich fordere keinen Preis, Sophie, ich stelle kein Ultimatum. Du gehörst zu mir – und ich werde zu dir stehen, ganz egal, was passiert.“ Diese bedingungslose Loyalität hätte sie beinahe dazu gebracht, ihn am Revers seines Jacketts an sich zu ziehen und zu küssen.
„Dann gehörst du auch zu mir.“ Das kam aus einem dunklen Ort in ihr, in dem nie Licht geschienen hatte … bis dieser Mann sie mit einem Blick angesehen hatte, der sagte, sie sei kein Stück Müll, das man wegwarf, weil es nicht vollkommen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich als vollständiges Wesen, die Narben und Risse waren lediglich ein Teil von ihr.
Max zuckte die Achseln, auf seiner Wange erschien das Grübchen. „Da werde ich nicht widersprechen.“
„Dann“, sagte sie und alles in ihr – auch das einst verängstigte, verlassene kleine Mädchen, das sich bislang nur durch die kalte Hand der Justiz geäußert hatte – war entschlossen, ihren Besitzanspruch laut und deutlich anzumelden. „Dann sollte jede Frau, deren Visitenkarte ich in deinem Jackett finde, lieber eine Kollegin sein.“
Max spürte Erheiterung und musste sich zusammennehmen, um Sophia nicht in seine Arme zu ziehen und in ihre volle Unterlippe zu beißen, um seinerseits seinen Besitzanspruch zu unterstreichen. „Wer wird schon wagen, sich an mich ranzumachen, wenn ich erwähne, dass meine Frau eine eifersüchtige J-Mediale ist?“
Seine Frau! Ihre Fassung bröckelte. „Max, wir können doch niemals – “
„Ich habe es doch schon gesagt, Sophie. Du gehörst zu mir. Und damit Ende der Debatte.“
35
In bestimmten Fällen verdächtigen Polizisten sofort den Vater. Niemand denkt an die Mutter, jedenfalls nicht als Erstes. Nur ich. Dabei wünschte ich, es wäre nicht so.
– aus den privaten Fallaufzeichnungen
von Detective Max Shannon
Ryan Asquith wirkte so ruhig wie immer, als er das Besprechungszimmer betrat, aber das war de rigueur für einen Medialen. Max sagte nichts, auch nicht, nachdem der Praktikant sich gesetzt hatte. Sophia verstand und tat es ihm gleich. Schließlich sah Ryan auf die Uhr. „Bin ich zu früh, Detective?“
„Sie haben uns verschwiegen, dass Sie sich einer Rekonditionierung unterziehen mussten“, sagte Max, ohne auf die Frage einzugehen.
Der junge Mann blinzelte nicht einmal. „Das steht doch in meiner Akte.“
„Und Sie haben es auch nicht für nötig gehalten, uns darüber zu informieren, dass Sie jemanden mit telekinetischen Kräften getötet haben, obwohl auch bei diesem Mord telekinetische Fähigkeiten mit im Spiel gewesen sein könnten.“
Ryan senkte die Augen. „Ich hatte angenommen, Sie wüssten es bereits. Das
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