Fesseln der Nacht - Feehan, C: Fesseln der Nacht - Predatory Game
einem matten Lächeln. »Er meint, deine übersinnlichen Veranlagungen sind stark und dein Gehirn ist sehr weit entwickelt, weit genug, dass es dir möglich sein sollte, die Pfade unter Einsatz von Visualisierung auf übernatürlichem Wege schneller herauszubilden. Und ich schließe mich seiner Meinung an. Du hast sowohl den normalen Teil deines Gehirns als auch Physiotherapie eingesetzt, doch wir haben bislang einen entscheidenden Teil dessen ausgelassen, was für dich ein Sprungbrett zu rascherer Heilung sein könnte. Außerdem«, sie zögerte und warf ihrem Mann einen Blick zu, »fand er, wir hätten Stromstöße einsetzen sollen, um die Zellen zu stimulieren.«
»Ich bin nicht sicher, ob mir dein spekulativer Tonfall behagt, Lily.«
Jesse streckte einen Arm aus, nahm die Akte über Saber zur Hand, legte die neuen Fotografien aus ihrem Leben lose hinein und blätterte sie noch einmal durch. Sie wirkte so jung, so unschuldig und so verletzbar. Ihm leuchtete nicht ein, dass Whitneys Beschützerinstinkte sich nicht geregt hatten. Wie hatte er sie ansehen können und nicht auf sie aufpassen wollen, wenn sie ein so wunderschönes Kind gewesen war?
»Jesse«, sagte Lily. »Es mag zwar sein, dass er ein Monster ist, aber seine medizinische Meinung zu dieser Frage sollten wir nicht außer Acht lassen.«
»Du willst mir Stromstöße versetzen, um zu sehen, ob meine Nerven darauf ansprechen oder nicht?«
»Nun ja, bei Eidechsen, deren Schwanz normalerweise nicht nachwächst, hat die Stimulation durch Elektroschocks tatsächlich Resultate hervorgebracht.«
»Um Gottes willen, Lily, also wirklich«, sagte Jesse.
Einige der Fotografien glitten aus dem Ordner auf den Fußboden und rutschten gerade so weit, dass sie nicht mehr mühelos zu erreichen waren. Jesse seufzte und bückte sich, um sie aufzuheben.
Sabers Hand war schneller als seine. Es waren die Fotos von ihr mit dem kleinen schokoladenbraunen Hund – bevor und nachdem sie ihn berührt hatte.
11
SABER SCHNAPPTE NACH Luft und starrte die Fotografien an, die sie in ihren Händen hielt. Das Blut rauschte und donnerte in ihren Ohren. Ihr Herz schlug fest gegen ihren Brustkorb. Die Woge von tiefster Demütigung war durch nichts aufzuhalten. Da war sie, im Alter von acht Jahren. Schon damals hatte sie Schatten in den Augen gehabt. Sie konnte sie sehen. Auf der Serie von Fotografien lächelte sie anfangs und spielte mit dem Hündchen. Am Ende weinte sie, und der Hund lag leblos auf ihrem Schoß. Die Erinnerung an diesen entsetzlichen Moment, als sie erkannte, dass sie dem Hund das Leben genommen hatte, ließ sie noch heute mit heftigem Herzklopfen, zugeschnürter Kehle und Tränen in den Augen aus dem Schlaf aufschrecken. Sie hatte durch ihre Berührung getötet.
Im ersten Moment konnte sie nicht denken … und sie bekam auch keine Luft. Das Dröhnen in ihren Ohren nahm zu, bis ihr Trommelfell schmerzte. Er hatte sie als Killer entlarvt. Die Mörderin in ihr erkannt. Die Attentäterin. Das personifizierte Böse. Ihre Berührung konnte den Tod bringen. Jesse Calhoun, der einzige Mensch in ihrem Leben, den sie jemals wirklich geliebt hatte, sah sie als das, was sie war.
Jesse zog Empfindungen an wie ein Magnet, und Sabers Gefühle waren überwältigend. Sie fühlte sich so verletzbar,
schämte sich so sehr und fand sich selbst so ekelhaft, als hätte sie kein Recht, auf demselben Planeten zu wandeln wie er oder wie irgendein anderer Erdenbewohner. Sie verabscheute sich für das, was sie tun konnte und getan hatte, und es überschritt ihre Fähigkeiten, damit umzugehen, dass er es sah – es wusste.
Sie nahm verschwommen wahr, dass Jesse sie telepathisch zu beruhigen und zu trösten versuchte. Sie war ein Kind gewesen. Whitney war das Monster, nicht sie. Whitney hatte ihren Gehorsam erzwungen, und er allein war für sämtliche Todesfälle verantwortlich.
Saber wich zwei Schritte zurück. Sie wollte fortlaufen, aber sie war wie erstarrt. Sogar ihr Geist schien erstarrt zu sein. Sie hob ihren Blick und sah Jesse in die Augen. Sie erwartete Abscheu. Vielleicht auch Furcht. Aber bestimmt nicht Mitleid. Und das versetzte sie in Wut. In rasende Wut. Sie war außer sich über diesen Verrat. »Du verfluchter Kerl. Du konntest einfach nicht die Finger davon lassen, stimmt’s?«
Jesse hörte die Mischung aus Wut und Scham aus ihrer Stimme heraus. Ihr Blick glitt über den Bildschirm hinter ihm, und er schaltete ihn aus, damit das, was gesagt werden musste, zwischen ihnen
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