Fesseln der Sehnsucht
immer völlig ratlos gewesen, wenn sie unglücklich war. Er hatte seine Vaterpflichten erfüllt so gut er es verstand, hatte ihr Ratschläge erteilt und ihr Strafpredigten gehalten, wenn er es für nötig hielt. Er hatte sie gelegentlich mit einem Cent belohnt, wenn sie brav war, und sie in das große Glas mit den bunten Bonbons greifen lassen. Nein, er wüsste nicht, wie er ihr in dieser Situation beistehen könnte.
Lucy räusperte sich verlegen. »Bess sagt Sie wollen mich wegen der Zeitung sprechen.«
»Ja. Es geht um einen Artikel über das Arbeitsministerium, den Heath mit nach Hause nahm um ihn durchzulesen. Haben Sie eine Ahnung, wo er ihn aufbewahrt?«
»Er müsste in seinem Schreibtisch sein. Wenn Sie einen Moment warten, sehe ich nach.«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Beim Anblick von Heath’ Schreibtisch in der Bibliothek mit den Papierstapeln, aufgereihten Notizbüchern und säuberlich aufgeschlitzten Briefumschlägen schmunzelte Lucy wehmütig. Als er das letzte Mal hier saß, hatte sie ihm Vorwürfe gemacht bis tief in die Nacht hinein zu arbeiten. Er hatte ihre Schimpftirade unterbrochen, sie auf seinen Schoß gezogen und ihr einen zärtlichen Kuss gegeben. Was würde sie alles darum geben, wenn er sie beim Namen nennen und sie erkennen würde?
Sie öffnete Schubladen und suchte den Artikel, konzentrierte sich ganz auf diese Aufgabe, um sich von ihrer Verzweiflung abzulenken. In der zweiten Schublade auf der rechten Seite, hinten in der Ecke, lag ein Stapel kleiner Umschläge, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. Der oberste Umschlag war in einer hübsch geschwungenen Frauenhandschrift an Heath adressiert.
Lucy starrte auf das Bündel Briefe, das Gewissen nagte an ihr. Nie zuvor hatte sie sich an seinem Schreibtisch zu schaffen gemacht. Richtig wäre gewesen, das Bündel liegen zu lassen und so zu tun, als habe sie es nie gesehen.
Lucy überlief es heiß und kalt, als sie einen heimlichen Blick über die Schulter warf, ehe sie nach dem Bündel griff und es in der Tasche ihres Kleids verschwinden ließ. Sie wollte nur einen kurzen Blick darauf werfen, nur um zu wissen, wer sie geschrieben hatte. Ich bin seine Frau, redete sie sich ein. Es ist mein Recht, davon zu wissen.
Zwischen uns darf es keine Geheimnisse geben. Er weiß schließlich auch alles über mich! Dennoch nagte das schlechte Gewissen an ihr, als sie die Schublade wieder schloss und ihre Suche nach dem Artikel wieder aufnahm.
Als sie ihn fand, eilte sie zurück in den Salon und überreichte ihn Damon, während das Päckchen in ihrer Tasche sich schwer wie Blei anfühlte.
»Vielen Dank«, sagte Damon, der sie anders anzusehen schien als zuvor. Stand ihr das schlechte Gewissen im Gesicht geschrieben? Ahnte er, dass sie etwas in Heath’ Schreibtisch gefunden hatte? Vielleicht bildete sie sich nur ein, dass er sie anders ansah, vielleicht sah sie bereits Gespenster. »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann«, fuhr Damon fort, »bitte lassen Sie es mich wissen.«
»Ja, gern«, antwortete Lucy, die den Besucher Plötzlich nicht schnell genug aus dem Haus haben konnte. Sie benahm sich schamlos. Nun, da sie bereits Schuld auf sich geladen hatte, musste sie auch wissen, was sie entdeckt hatte, und konnte es kaum erwarten, allein zu sein und die Briefe zu lesen.
Als Damon sich verabschiedet hatte und Lucy allein war, zog sie die Portiere im Durchgang zum Salon vor und setzte sich in einen Polstersessel, lehnte sich zurück und schloss seufzend die Augen, um das trockene Brennen zu lindern. Sie konnte kaum fassen, was sie im Begriff war zu tun. Ihr Ehemann lag hilflos und schwer krank ein Stockwerk höher, während sie hier saß und in seiner privaten Korrespondenz schnüffelte. Ich darf es nicht … ich darf es nicht tun. Aber ich muss es wissen. Entschlossen zog sie die Schleife auf und fächerte die Umschläge durch.
Alle trugen dieselbe Frauenschrift. Hatte Raine sie geschrieben?
Nein. Lucys gestraffte Schultern sackten vor Erleichterung ein, als sie den ersten Brief herauszog und die Unterschrift las. Amy. Der Name von Heath’ Halbschwester. Die Schrift war noch nicht ausgeglichen, ein wenig kindlich und unbeholfen. Amy war fast noch ein Kind. Das Datum des ersten Briefes lag über ein Jahr zurück, im Juni 1868. Lucy überflog den Inhalt. Amy schrieb über die Plantage der Familie Price und ihre Bewohner. Der Name Clay – Heath’ Halbbruder – wurde häufig erwähnt, auch eine kurze Bemerkung über
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