Fesseln der Sehnsucht
Lucy hatte vergessen, wie gut er aussah. Woran lag es, dass der Süden diese magische Wirkung auf ihn hatte? An den Menschen? Der Sonne? Dem Klima?
»Willkommen daheim«, brachte sie atemlos hervor. »Wie ist es dir ergangen?« Sein Südstaatenakzent schien sich verstärkt zu haben. Sie liebte den gedehnten Singsang seiner melodischen Stimme. Du hast mir gefehlt, schien sein Blick ihr zu sagen und die stumme Botschaft beschleunigte ihren Pulsschlag noch mehr.
»Ganz gut«, antwortete sie lächelnd und wollte seine Begleiterin begrüßen, ein hoch aufgeschossenes, blondes Mädchen, schlank, hübsch und schüchtern. Amy Ihre Gesichtszüge waren weicher als die von Heath doch in den Augen und in der Mundpartie lag Ähnlichkeit mit dem Halbbruder. Sie blickte Lucy scheu und ängstlich entgegen.
Hinter ihr stand eine zweite Frau. Und Lucy wusste sofort, wer sie war. Wie konnte er ihr das antun?
Hilflose Wut, Kränkung, Entrüstung – das alles würde später kommen. Im Augenblick war Lucy zu betroffen, um überhaupt etwas zu fühlen. Sie spürte nur, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich, wie sie versteinerte. Das war besser als Zorn und weitaus besser als Angst. Raine sollte nichts von ihren Gefühlen ahnen.
»Entschuldige bitte, dass ich dich nicht darauf vorbereiten konnte«, erklärte Heath mit einstudierter Besänftigung.
»In letzter Minute hat sich eine Veränderung ergeben und unsere Reisegesellschaft hat sich vergrößert. Lucy, ich möchte dir meine Schwester Amy vorstellen, und meine Schwägerin Mrs. Laraine Price.«
»Guten Tag, Amy … Mrs. Price … Freut mich, Sie kennen zu lernen. Mein Beileid für Ihren schmerzlichen Verlust«, murmelte Lucy mechanisch, während Raine sich ihr anmutig und graziös näherte. Ihre Röcke schienen über das Parkett zu schweben. Raine war von außergewöhnlicher Schönheit, die jeder Frau das Gefühl geben musste, plump und linkisch zu sein. Ihre grauen Augen waren von langen, dichten Wimpern umrahmt, ihr Teint war von beinahe durchsichtiger Reinheit. Wippende, brünette Locken reichten ihr bis zu den Schultern. Sie war mittelgroß, doch ihre gertenschlanke Figur ließ sie größer erscheinen.
»Heath’ Frau …« Sie nahm Lucys Hand in ihre schmale, kühle Hand und drückte sie sanft. »Er hat uns nicht gesagt, wie hübsch Sie sind. Bitte nennen sie mich Raine.« Lucy gewahrte mit einiger Verwunderung, dass Raines Hand zitterte. Offenbar war auch sie aufgeregt und unsicher, was sie allerdings durch nichts sonst zu erkennen gab. Ihre Augen leuchteten klar und gelassen, sie lächelte gewinnend. Sie glich in keiner Weise der Frau, die Amy in ihren Briefen geschildert hatte. Raine ließ Lucys Hand los und wandte sich an das stille Mädchen hinter ihr. »Amy, du musst keine Angst vor deiner neuen Schwägerin haben. Komm und bedanke dich für ihre Gastfreundschaft.«
Gehorsam trat Amy vor, mit gesenkten Lidern und verschränkten Händen. Sie schien sich vor Fremden zu ängstigen. Vielleicht wusste sie nur nicht recht, wie sie der Yankee-Frau ihres Bruders begegnen sollte.
Als Lucy das schüchterne Mädchen ansah, vergaß sie Raine und Heath und ihre Eifersucht. Mitgefühl für Amy erfüllte ihr Herz. Das Mädchen hatte ihren Bruder verloren, war von ihrer Mutter im Stich gelassen worden und sah sich unversehens in ein fremdes Land versetzt. Sie ist sehr einsam und fürchtet sich. Ich an ihrer Stelle hätte auch keine Lust, eine völlig Fremde mit übertriebener Freundlichkeit zu begrüßen.
»Du musst sehr müde sein«, meinte Lucy sachlich und Amy warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Ihre Augen hatten das gleiche Türkisblau wie Heath’ Augen.
»Ja. Ich reise nicht gern.«
»Da geht es dir wie mir«, antwortete Lucy, während Amy mit einem raschen Blick ihr modisches Kleid musterte.
Lucy war aufgefallen, dass Amys und Raines Garderobe zwar sorgsam gepflegt war, aber aussah, als sei der Stoff gewendet worden.
»Heath sagt, Sie sind klein und zierlich«, stellte Amy fest. »Er sagt, Sie tragen immer hochhackige Schuhe.«
»Amy!«, schalt Raine ihre junge Schwägerin.
»Aber ja, ich trage hochhackige Schuhe«, meinte Lucy lächelnd. »Immer.«
»Sie ist wirklich klein«, sagte Amy an ihren Bruder gewandt. Heath lächelte.
»Sag ich doch.«
»Verzeihen Sie«, bemerkte Raine zu Lucy und in ihren grauen Augen lag ein Anflug von Verlegenheit. »Sie ist eben noch ein Kind.«
»Ich würde nicht wagen, jemanden ein Kind zu nennen, der größer ist als
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