Fesseln der Sehnsucht
vorwiegend dazu, Hüte zu tragen. Es gab gewisse Themen, über die er nur oberflächlich mit ihr sprach. Politik zum Beispiel war ein Thema, über das sie nie redeten. Und wenn sie ihre Meinung äußerte oder Fragen stellte, hörte er nur mit halbem Ohr hin, so etwa als sie beispielsweise vor kurzem über die Wahl der Frauenrechtlerin Elizabeth Cady Stanton zur Präsidentin der National Woman Suffrage Association sprachen. »Die ganze Frauenbewegung ist dummes Zeug und reine Zeitverschwendung«, hatte er wegwerfend bemerkt und wollte eine seiner Ansicht nach sinnlose Diskussion im Keim ersticken.
»Ich halte es nicht für Zeitverschwendung, darüber zu reden und sich die Meinung anderer anzuhören«, hatte Lucy ihm entgegengehalten. »Nächste Woche gibt es einen Vortrag, den ich gern …«
»Frauen werden niemals das Stimmrecht erhalten, weil es völlig unnötig ist. Die Aufgabe einer Frau ist es, sich um Haushalt, Ehemann und Kinder zu kümmern, um der Familie ein schönes gemütliches Heim zu bereiten. Im Übrigen wählt ein Mann nicht nur für sich allein, sondern für seine ganze Familie. Der Mann geht auch im Namen seiner Frau zur Wahlurne.«
»Aber wenn …«
»Lucy, es ist Zeitverschwendung.«
Sie fragte sich, ob Daniel ihren Ansichten mehr Respekt entgegenbringen würde, wenn sie einmal älter sein würden.
Es war nicht so, als wäre er nicht interessiert an dem, was sie dachte. Er war nur einfach nicht daran gewöhnt, die Denkweisen einer Frau gelten zu lassen, schon gar nicht in Belangen, die er für Männersache hielt. Die meisten Männer waren dieser Ansicht. Der einzige Unterschied bestand darin, dass manche etwas hartnäckiger und andere etwas aufgeschlossener waren. Die einzige Ausnahme bildete Heath Rayne. Lucy dachte an die kurzen Gespräche mit ihm bei ihren seltenen gesellschaftlichen Zusammenkünften – meist heimliche, flüchtige Augenblicke. Um ihrem Ruf nicht zu schaden, war sie darauf bedacht, sich nicht zu auffällig mit ihm zu unterhalten. Trotz aller Bedenken war sie von diesem Mann fasziniert. Während Daniel stets eine feste Meinung zu allen Belangen hatte, schien Heath selten von der Absolutheit einer Meinung überzeugt zu sein. Er hörte ihr aufmerksam zu, provozierte gelegentlich eine Meinungsverschiedenheit oder drehte ihr die Worte im Mund herum, nur um sie zu necken, aber er sagte nie, ihre Meinung sei albern oder über etwas zu reden sei Zeitverschwendung.
»Sie sind ein grässlicher Mensch«, hatte sie ihm kürzlich bei einer Abendgesellschaft vorgeworfen.
»Ich? Warum denn das?«, hatte Heath sie blauäugig gefragt.
»Wenn ich zufrieden bin, versuchen Sie mich um Jeden Preis zu provozieren. Und wenn ich mich schließlich über Ihre Unverfrorenheit entrüste, überschütten Sie mich mit Komplimenten. Wenn ich friedlich gestimmt bin, stacheln Sie meinen Widerspruchsgeist an und bringen mich dazu, die schockierendsten Dinge zu sagen. Und immer wieder falle ich auf Sie herein …«
»Moment, Süße. Sie sind keine willenlose Marionette. Egal, was ich auch tue oder sage, Sie sind es, die bestimmt, was Sie sagen oder tun wollen. Niemand zwingt Sie, gegen Ihren Willen zu tun oder zu handeln.«
»Das stimmt nicht. Früher oder später wird jeder Mensch dazu gezwungen. Auch Sie. Sie wollten nicht in den Krieg ziehen und haben sich dennoch gemeldet, weil Sie es tun mussten und weil …«
»Wieso behaupten Sie, ich sei nicht freiwillig in den Krieg gezogen?«
»Weil … aber …«, stammelte sie verwirrt. »Sie sagten doch, der Krieg nimmt uns die Menschenwürde.«
»Ja, das ist richtig. So sehr es mir widerstrebt, Emerson zuzustimmen, in einem Punkt hat er Recht. Der Krieg ist in mancher Hinsicht ein Läuterungsprozess. Im Krieg erscheint das alltägliche Leben banal. Auf dem Schlachtfeld erlebt man die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrungen in ihren Extremen. Man ist konfrontiert mit Sterben, Tapferkeit, Feigheit, Heldentum. Ich habe sämtliche Empfindungen, zu denen der Mensch fähig ist, in unvorstellbarer Tiefe und Macht erlebt.« Seine nachdenkliche Stimmung verflog jäh, als er ihr mit einem herausfordernden Grinsen in die Augen sah. »Jede Empfindung, abgesehen von der Liebe.«
»Dann haben Sie noch nicht die richtige Frau getroffen.«
»Das weiß ich nicht.«
»Vielleicht haben Sie nicht intensiv genug gesucht.«
»Oh, das würde ich nicht sagen.«
Lucy lächelte sinnend in der Erinnerung an dieses Gespräch.
»Woran denkst du?«, fragte Daniel und
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