Fesseln der Sehnsucht
ließ die Ruder sinken.
»Ach, nichts Besonderes«, antwortete sie achselzuckend.
»Du wirkst in letzter Zeit versonnen und lächelst häufig.«
»Gefällt dir das nicht? Lächeln ist doch ein Zeichen, dass man glücklich ist.«
»Ja, du hast Recht«, meinte er leicht verwirrt.
An einer Flussbiegung sonnte sich eine Schildkröte auf einem abgestorbenen Ast. Als die Boote sich näherten, plumpste sie ins Wasser, woraufhin ein paar Wildenten neugierig angeschwommen kamen. Lucy ließ den Blick über das üppig bewachsene Ufer mit seinen Wasserlilien und tief hängenden Weiden schweifen und konnte sich kaum vorstellen, dass sie vor ein paar Monaten beinahe in den eisigen Fluten des harmlosen Flusses ertrunken wäre. Oft hatte sie mit dem Gedanken gespielt zu erzählen, dass sie Heath ihr Leben verdankte. Damit wäre sein Ansehen in der Stadt erheblich gestiegen und es hätten sich vermutlich Türen für ihn geöffnet, die ihm bislang verschlossen waren. Doch weder er noch sie hatten je einer Menschenseele davon erzählt da Lucys Ruf dadurch unwiederbringlich geschädigt worden wäre. Niemand würde glauben, dass sie zwei Tage und Nächte unter einem Dach mit ihm verbracht hatte, ohne ihre Unschuld verloren zu haben.
»Luuucy!«, rief eine helle, aufgeregte Stimme vom Flussufer, wo einige Boote angelegt hatten. Sally winkte herüber in einem weißen Sommerkleid mit roten und blauen Streifen zu Ehren des Unabhängigkeitstages.
»Du solltest ihr sagen, wie unschicklich es ist, so laut zu kreischen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
»Daniel. Sei nicht so streng. Wir sind doch unter Freunden.«
»Aber Lucy, wir hatten doch abgemacht, die Nationalfarben zu tragen!«, rief Sally fröhlich. »Wie unpatriotisch von dir, nicht Wort zu halten!«
»Ich bin nicht unpatriotisch«, rief Lucy lachend zurück. »Ich besitze nur kein Kleid in den Nationalfarben.«
»Egal. Daniel soll dich rüberrudern.«
»Ich lasse mir ungern von einer Frau Befehle erteilen«, murmelte Daniel mürrisch.
»Mein armer Liebling«, meinte Lucy schmunzelnd. »Bitte versuche, nett zu ihr zu sein. Mir zuliebe. Sie ist meine beste Freundin und ich habe ihr versprochen, dass wir zusammen picknicken.«
»Wie jedes Jahr … nur weil sie aus unserem Korb naschen will. Du weißt, dass sie nicht kochen kann. Mit wem ist sie diesmal zusammen? Mit diesem unbedarften Bauemlümmel? Oder mit Fred Rothford oder diesem nuschelnden …«
»Ich weiß es nicht. Wer er auch sein mag …« Lucys Stimme blieb irgendwo in ihrer Kehle stecken, als sie die hoch gewachsene, breitschultrige Männergestalt entdeckte, die lässig in Sallys Nähe an einem Baumstamm lehnte.
Er trug ein weißes Hemd mit offenem Kragen und weiten Ärmeln, dunkelbraune Hosen und hohe Stiefel.
»Um Himmels willen«, knurrte Daniel, »mit dem Kerl ist Sally zusammen? Sag bloß, ich soll mit diesem Konföderierten zu Mittag essen!«
»Daniel«, bat Lucy, »bitte bring mich nicht in Verlegenheit. Uns beide nicht. Du wirst es überleben, ein paar Höflichkeiten mit ihm auszutauschen. Du musst ja nicht besonders freundlich sein. Aber fang bitte keinen Streit an.«
»Wenn er anfängt, bekommt er von mir, was er verdient!«
»Er will keinen Streit, da bin ich ganz sicher. Er will nur ein nettes Picknick haben, genau wie du.«
»Vergleiche mich nicht mit diesem Kerl«, wies Daniel sie schroff zurecht. »Ich habe nichts mit ihm gemeinsam.«
»Wie Recht du hast«, murmelte Lucy. Sie klappte ihren Sonnenschirm zu und sandte ein Stoßgebet gen Himmel.
Die Situation glich einem Albtraum.
Nachdem Daniel das Boot festgemacht und Lucy an Land geholfen hatte, raffte sie die Röcke und kletterte die Uferböschung alleine hinauf. Daniel stellte den Picknickkorb auf den Steg und machte sich noch eine Weile am Boot zu schaffen; er trödelte absichtlich herum, um die unangenehme Begegnung hinauszuzögern. Oben auf der Wiese wurde Lucy von Sally empfangen, die auf der ausgebreiteten Wolldecke saß.
»Mr. Raynes kennst du ja bereits. Ich muss euch nicht vorstellen.« Sallys Stimme drang wie durch eine Nebelwand an Lucys Ohr, die in faszinierend blaue Augen blickte und spürte, wie ihr Puls beängstigend raste.
»Miss Caldwell«, grüßte Heath höflich, »welch unerwartetes Vergnügen.«
»Ist es denn ein unerwartetes Vergnügen?«, fragte Lucy, nachdem Sally zum Fluss hinuntergegangen war, um Daniel mit den Picknickkörben zu helfen.
»Ja und nein.«
»Wie darf ich das
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