Fesseln der Sehnsucht
keine Abschrift. Nur das Exemplar im Haus. Mein Manuskript!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Emerson«, versuchte jemand ihn zu beschwichtigen. »Das hat bestimmt einer der Männer in Sicherheit gebracht …«
»Wer? Wo ist mein Manuskript?« Emerson wollte sich nicht beruhigen lassen, seine Stimme überschlug sich nun vor Erregung. »Es liegt in einer weißen Schachtel in der Bibliothek. Wo ist es?«
Es setzte eine flüchtige Suche nach den Papieren unter den geretteten Gegenständen ein. »Mein Manuskript«, wiederholte Emerson mit zitternder Stimme. Kreidebleich und mit wirrem Blick schüttelte er die Helfer ab, die ihn besänftigen wollten, taumelte wie ein Schlafwandler über den Rasen und wäre beinahe über Heath gestolpert, der vorgebeugt und schwer atmend im Gras hockte, die Unterarme auf die Knie gestützt. Heath hob müde den Kopf und blickte den alten Mann aus geröteten Augen an. Zwei Welten standen einander gegenüber. Der alte gebrechliche Mann, hinter dem ein Leben angefüllt mit Wissen und Erfahrung lag, und der kraftstrotzende junge Mann, der sein Leben noch vor sich hatte. Eines war den beiden so unterschiedlichen Männern gemeinsam, die Achtung vor dem geschriebenen Wort. Heath begriff, was der Verlust des Manuskripts für den alten Mann bedeutete. Der alte und der junge Mann starrten einander stumm an, bis Heath fluchend auf die Beine kam und sich müde zum Haus schleppte.
Vor Entsetzen gelähmt sah Lucy zu, wie er eine vom Löschwasser durchweichte Decke an sich nahm und die Verandastufen hinaufstieg. Niemand machte Anstalten, ihn zurückzuhalten. »Nein«, hauchte sie tonlos. Und als Heath sich dem Inferno näherte, schrie sie gellend: »Nein! Tu es nicht!«
Falls Heath ihren Schrei gehört hatte, achtete er nicht darauf und verschwand in dem Flammenschlund. Lucy versuchte, einen Schritt zu machen, doch sie wurde von ihrem Vater zurückgehalten, der ihr zuflüsterte, alle Leute würden zu ihnen herüber starren. Lucys Atem ging rasselnd, das Herz schlug ihr bis zum Hals, schmerzend wie eine offene Wunde. Ihre Augen waren auf die Höhle des Hauseingangs fixiert, sie stand versteinert, ihre Muskeln und Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Aus dem brennenden Gebäude war ein nervenerschütterndes Krachen zu hören, als ein Teil des Dachgebälks einstürzte. Lucas legte seiner Tochter die Hand auf den Arm, die vor seiner Berührung zurückschreckte und gebannt auf den Eingang starrte, als könne sie Heath damit zwingen herauszukommen. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ohne dass er auftauchte.
»Lucy, was ist mit dir los?«, hörte sie Daniels Stimme. Sie wandte sich ihm zu. Er sah müde und erschöpft aus und bewegte ächzend seine verspannte Schultermuskulatur.
»Das … ich … Mr. Rayne ist da drin«, stammelte sie. »Kümmert dich das gar nicht?«
»Ob mich das kümmert?«, wiederholte Daniel, nahm sie bei den Ellbogen und blickte ihr forschend ins Gesicht. In seinen braunen Augen flackerte Verwirrung und dann Zorn. »jedenfalls nicht so sehr wie dich. Wie kommt das, Lucy?«
»Er ist ein Mensch! Wieso scheint sich niemand dafür zu interessieren? Wieso begreift das niemand?«
Daniels Stimme klang schneidend und kalt. »Du warst im Krieg noch ein Kind. Du bist es doch, die nichts begreift.
Der Kerl würde uns am liebsten erschießen. Mein Gott hast du eine Ahnung, was die Rebellen uns während des Krieges angetan haben? Manche von ihnen waren nicht besser als wilde Indianer. Sie skalpierten die Soldaten der Union bei lebendigem Leib. Weißt du, was sie uns in den elenden Gefängnissen angetan haben? Sie haben uns behandelt wie die Tiere, haben uns verhungern und ohne Medizin verrecken lassen. Nein, ich werde nie vergessen und ich werde nie verzeihen. Und was diesen Konföderierten anlangt mag er noch so gut aussehen und charmant sein, aber innen drin ist er verrottet wie alle seine Landsleute. Er ist es nicht wert, sich um sein Leben Sorgen zu machen.«
»Die Südstaatler waren nicht die Einzigen, die Verbrechen begangen haben. Ich habe gehört, was die Unionssoldaten den Feinden angetan haben«, versetzte Lucy, der die Tränen der Verzweiflung haltlos über die Wangen liefen. »Sie haben ihre Häuser und Felder niedergebrannt, sie haben ihre Frauen geschändet …«
Daniels Gesicht verhärtete sich, seine Augen durchbohrten sie. »Was redest du da?«
»Ich glaube nicht, dass eine Seite nur gut und die andere nur schlecht war …«
»Du bist von der Aufregung
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