Fesseln der Sehnsucht
völlig durcheinander«, unterbrach er sie kalt. »Deshalb will ich dieses Gespräch vergessen. Zerbrich dir nicht den Kopf über Dinge, von denen du nichts verstehst, Lucy. Wenn du den Krieg erlebt hättest, würdest du wissen, was für Menschen die Südstaatler sind. Du würdest sie hassen. Ich an deiner Stelle würde mir um den stinkenden Rebellen keine Gedanken machen. Der kommt nur durch ein Wunder lebend aus dem Flammenmeer.«
Lucy biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete, als Daniel sich entfernte. Wieso erschienen ihr plötzlich alle so fremd? Daniel, ihr Vater, die Nachbarn – als kenne sie die Menschen nicht. Ihr war, als stünde sie am Rande einer Bühne und sehe einem Theaterstück zu, von dem sie kein Wort verstand. Sie wusste nur, dass Heath immer noch in dem brennenden Haus war und sie Todesängste um ihn ausstand. Egal, wer er war oder was er in der Vergangenheit getan haben mochte, sie wollte nicht, dass er sterben musste. Sie presste die Handflächen gegen die Schläfen, hinter denen ein dumpfer Schmerz tobte, und starrte in die Flammen, bis ihre Augen vom grellen Feuerschein geblendet waren.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung an der Haustür wahr. Heath taumelte ins Freie, warf die Decke von sich und drückte eine angesengte weiße Schachtel an sich. Seine Silhouette hob sich dunkel vor den grellen Flammen ab, als er die Stufen der Veranda herunter wankte. Hinter ihm krachten der restliche Dachstuhl und die Wände des Obergeschosses in einem sprühenden Funkenregen zusammen. Die Menge starrte ihn wortlos an, manche wichen angstvoll vor ihm zurück. Gesicht, Brust und Arme waren rußgeschwärzt, sein Hemd hing ihm in versengten Fetzen vom Leib und entblößte einen gebräunten, schweißglänzenden Oberkörper, der kreuz und quer von längst verheilten Narben durchzogen war. Heath zog hinkend ein Bein nach. Dieses Hinken tat seiner furchteinflößenden Erscheinung keinen Abbruch, machte ihn nur noch bedrohlicher; er war wie ein todwundes Raubtier, das zum Sprung ansetzte. Seine blutunterlaufenen Augen wanderten über die Menge der Gaffer, dann näherte er sich Mr. Emerson und reichte ihm das Manuskript.
»Vielen Dank.« Emerson verneigte sich, nahm den Karton mit zitternden Händen entgegen und drückte ihn wie ein Kind an die Brust. »Ich stehe in Ihrer Schuld …«
»Keine Ursache. Und es bedeutet nicht, dass ich Ihre politischen Ansichten mehr schätze als zuvor«, entgegnete Heath krächzend und entfernte sich hinkend auf den nahen Wald hinter dem Haus zu.
Kurz vor Morgengrauen hatten die Helfer die geretteten Gegenstände einigermaßen geordnet und die vom Wind lose herumfliegenden Blätter und Briefe eingesammelt. Das Feuer erstarb allmählich und hinterließ eine ausgebrannte, schwarz verkohlte Ruine und Berge grauer Asche. Verstohlen blickte Lucy in die Richtung, in die Heath verschwunden war, und folgte ihm schließlich, als sie sich unbeobachtet wähnte. Sie hätte bei ihrem Vater und Daniel bleiben müssen, doch es drängte sie, den Südstaatler zu finden; sie würde erst wieder ruhig atmen können, wenn sie mit ihm gesprochen hatte.
Heath hockte auf einem flachen Felsbrocken, den Rücken gegen den weißen Stamm einer alten Birke gelehnt. Er hatte die Knie angezogen, die Ellbogen aufgestützt und den Kopf in den Händen geborgen. Er hörte ihre Schritte auf dem knisternden Waldboden im raschelnden Laub, ohne den Blick zu heben.
»Das hätten Sie nicht tun dürfen«, schalt sie und reichte ihm die mitgebrachte Wasserflasche. Er trank durstig, das Wasser lief ihm aus dem Mund und tropfte ihm auf Brust und Hemd. Lucy kauerte sich neben ihn, legte eines der nassen Tücher, die sie von einem Haufen Kleidungsstücke genommen hatte, zusammen und begann zaghaft, ihm das Gesicht von Ruß und Schweiß zu säubern. Heath lehnte den Kopf gegen den Baumstamm und beobachtete sie matt. »Wie können Sie nur Ihr Leben für einen Stapel Papiere aufs Spiel setzen«, schalt Lucy ihn streng, »egal, wie wichtig sie sein mögen.«
»Da wäre mancher anderer Meinung …«, antwortete krächzte er heiser und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
»Lächerlich«, schimpfte sie mit blitzenden Augen und wischte ihm das Gesicht energisch ab. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte Heath Über ihre Fürsorge geschmunzelt. Ob sie wusste, wie besitzergreifend und vertraulich sie wirkte, als sie vor ihm kniete und ihm das Gesicht wusch?
»Es ist lange her, seit jemand das mit mir gemacht
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