Fesseln der Sünde
erfassen.
»Hier habe ich als Junge gelernt.« Er hob die Kerze hoch, um eine Ecke unter dem schrägen Dach zu beleuchten. »Schauen Sie. Niemand hat hier seitdem etwas berührt.«
Sarah ging näher zu dem ungeordneten Haufen an Büchern, die sich bei der zerlumpten Decke, die er im Winter benutzt hatte, stapelten. Der Dachboden musste im Januar so kalt wie eine Eishöhle gewesen sein. »Sie wollten weg von Ihrem Vater.«
Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Er hasste es, einen lesewütigen Sohn zu haben. Doch so oft er mich auch schlug, ich änderte mich nicht. Ich blieb stur.«
»Sie waren stark. Sie sind stark.«
Er hätte jetzt mit ihr streiten können, tat es aber nicht. »Glücklicherweise war ich die meiste Zeit im Internat und somit weg von hier.«
»Wissen Sie, wo die Sachen Ihrer Mutter sind?«
Er zeigte auf ein paar Truhen vor der Wand. »Auch sie sind nie wieder verrückt worden. Die Sachen meines Vaters und meines Bruders sind unten. Das Haus ist so groß, ich brauche viele Räume gar nicht.«
»Dieses Haus ist für Kinder gemacht«, sagte sie ruhig. »Viele Kinder.«
Er wurde nervös und fragte sich, ob sie das Thema einer Heirat noch mal anschneiden würde, doch sie sagte nichts weiter. Was er erleichtert zur Kenntnis nahm.
»Hoffentlich haben sich nicht die Mäuse darüber hergemacht.« Er ging hinüber, um die erste Truhe zu öffnen. Und um das Netz der Vertrautheit, das sich langsam um sie spann, zu durchbrechen.
»Es riecht nicht nach Mäusen. Ihre Katzen müssen fleißige Jäger sein.«
»Es blieb ihnen bei der achtlosen Herrschaft meines Vaters und Bruders nichts anderes übrig, wenn sie volle Bäuche haben wollten.« Er warf den schweren Deckel mit einem Knall nach hinten. Sofort schlugen ihm verblasste Gerüche entgegen und durchdrangen seine Sinne. Lavendel, der ihre Kleider frisch gehalten hatte. Ein Hauch von Rosenduft, der von seiner Mutter stammen musste.
Sarah stellte sich leise neben ihn. »Ich habe das Gefühl, als wäre sie hier.«
»Das habe ich auch.« Seine Stimme klang beherrscht und dadurch tonlos. Er stellte die Kerze auf die Truhe hinter sich. Seine zitternden Hände waren Sarah sicherlich nicht entgangen, denn die Flamme flackerte in der abgestandenen Luft des Speichers.
Zögerlich begann er, den Inhalt der Truhe zu sichten. Hauben. Hüte. Schals. Taschentücher. Strümpfe. Schuhe. Weiche Handschuhe aus Ziegenleder, die die Form der Hände seiner Mutter angenommen hatten. Hände, die er nie berührt hatte.
Ganz unten auf dem Boden fand er schließlich ihre sorgfältig zusammengefalteten Kleider. Seine behandschuhte Hand strich über schwere Seide, und er hob vorsichtig einen Abendumhang hoch. Der glänzende blaue Stoff fiel auseinander, und ihr Rosenparfum verteilte sich in der Stille.
Er hatte noch nie die Sachen seiner Mutter berührt, da es ihm nicht richtig erschienen war, in ihren privaten Habseligkeiten herumzustöbern. Obwohl er immer gewusst hatte, welche der Truhen ihre waren.
Er legte den Umhang vorsichtig beiseite. Er nahm gerade noch Sarahs Schritte wahr, die sich auf dem Dachboden umsah. Plötzlich hüllte ihn helles Licht ein.
»Das könnte hilfreich sein.« Sie stellte die Laterne neben ihm ab.
»Die habe ich beim Lesen benutzt.«
»Ich fand sie bei Ihren Büchern.« Sie kniete sich hin, ihre Schultern nur wenige Zentimeter von ihm entfernt.
Verzweifelt wollte er sie bitten, von ihm wegzurücken. Sie war so nahe, dass er ihren Geruch, diesen lebhaften Nelkenduft, der sich mit dem der erinnerungsträchtigen Rose vermischte, wahrnahm. Und so nahe, dass er den ungleichmäßigen Rhythmus ihrer Atmung hörte.
War seine Nähe für sie etwa genauso verstörend wie ihre für ihn? O Gott, die Situation wurde von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Er schloss kurz die Augen und betete um Stärke. Als er sie wieder öffnete, studierte Sarah eingehend die Gegenstände, die er auf dem Boden abgelegt hatte.
»Alles ist so zart«, sagte sie leise. »Als ob Engel die Kleider gemacht hätten. Schauen Sie.« Sie hielt einen dünnen Spitzenschal hoch, so fein wie ein Spinnennetz.
Er streckte die Hand aus, um den Stoff zu berühren, zuckte dann aber zurück. Sein ganzes Leben lang hatte ihn der sanfte Geist seiner Mutter verfolgt. Ihre Kleider zu berühren vergegenwärtigte ihm ihre Tragödie auf unmittelbare und schmerzliche Weise.
Er bemühte sich, seiner Stimme einen nüchternen Ton zu verleihen. »Für den Winter wohl nicht ganz geeignet.«
Er musste
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