Fesseln der Sünde
sein, eine Lüge zu leben.«
»Es war schmutzig, einsam und schwierig.« Immer noch war sein Blick auf eine weit entfernte Landschaft gerichtet, die sie nicht sehen konnte. »Aber ich dachte, ich würde für das übergeordnete Wohl arbeiten und gegen barbarische Kräfte. Zumindest am Anfang. Am Schluss gelangte ich zu der Erkenntnis, dass die Gier meines Dienstherrn die größte Barbarei war, viel schlimmer als alles, was mir je bei den Einheimischen begegnet war.« Er hielt inne, und seine Hände hielten krampfhaft die Stuhllehnen fest. »Dann wurde ich gleichzeitig mit zwei meiner Kollegen verraten.«
Schließlich begann seine unheimliche Selbstbeherrschung zu zerfallen. Seine rauer werdende Stimme ließ sie erkennen, dass er sich dem schlimmsten Teil seiner Geschichte näherte. Sie verkrampfte sich, und Angst stieg in ihr hoch, die sich zu einer kalten Masse in ihrem Magen verband. Sie wusste bereits, dass sie seine Erzählungen verabscheuen würde.
»Es war mein letzter Auftrag.« Sein Ton wurde mit jedem Wort härter. »Der Nawab von Rangapindhi hatte Pläne geschmiedet, in ein benachbartes Königreich einzufallen, dessen Herrscher den Briten wohlwollender gegenüberstand als den Indern. Meine Vorgesetzten wollten unbedingt erfahren, was in Rangapindhi vor sich ging. Doch der Nawab war gerissen und auf der Hut - noch schlimmer aber war, dass er Spione in der Kompanie hatte.«
»Ich kann mir diese Welt kaum vorstellen«, sagte Charis leise und presste die Worte trotz ihrer Angst heraus.
»Den größten Teil meines Erwachsenenlebens war dies meine Welt, und sie war mir so vertraut wie mein eigenes Spiegelbild.«
»Doch sie war immer gefährlich.«
»Ja, und wenn man das vergaß, war man so gut wie tot.« Plötzlich sprang er ruhelos von seinem Stuhl hoch und ging durch den Raum, um das Feuer mit gezügelter Heftigkeit zu schüren. Die Flammen warfen ein unversöhnliches Licht auf seine angespannten, sich um den Mund herum abzeichnenden Falten.
»Ich war für Rangapindhi nicht vorgesehen.« Er setzte den Schürhaken mit übertriebener Vorsicht ab, seine Stimme klang beherrscht und dadurch ausdruckslos. »Ich reichte meine Entlassung ein und buchte eine Überfahrt nach England. Doch meine Dienstherren wollten ihre besten Männer hinschicken, und so ließ ich mich von ihnen überreden. Drei von uns - Charles Parsons, Robert Gerard und ich - fuhren nach Rangapindhi.« Dieses Mal dauerte die Stille länger, begleitet von der Trauer und Wut Gideons. »Nur ich kam lebend da raus.«
»Was ist passiert?«
Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass es unbeschreiblich fürchterlich gewesen sein musste.
»Gerard war unvorsichtig. Er war seit zehn Jahren im Einsatzgebiet. Zu lange. Er war ein guter, mutiger Mann. Doch selbst der beste Mann macht irgendwann einmal einen Fehler, wenn er schon zu lange diesem Druck ausgesetzt ist.«
Sie bemerkte, dass er bereit war, einem anderen ein Versagen nachzusehen, nicht aber sich selbst, doch sagte sie nichts dazu. Er fuhr mit einer zittrigen Hand durch sein Haar, und sein Körper sackte in sich zusammen. Vor Niedergeschlagenheit, vermutete sie. Er war müde und verletzt, und sie hatte nicht das Recht, ihm eine Predigt zu halten. Aber wenn sie ihn nicht jetzt zu fassen bekäme, da er so verletzlich war, würde er sich wieder hinter seinen gewaltigen Schutzwall zurückziehen.
Er seufzte schwer. »Verdammt, ich habe zu viel getrunken.«
Sie erhob sich auf ihre wackligen Beine und kämpfte gegen eine verwirrende Mischung aus Angst und überwältigender Liebe an. »Um Himmels willen, Gideon, erzähl mir, was passiert ist.«
Wie seine Frau da so mitten in diesem Raum voller Schatten stand, sah sie wie ein aus Alabaster gehauener Engel in einer Kirche aus. Und genauso unerbittlich.
Aus Charis’ beharrlichem Blick sprach so viel Vertrauen, so viel Liebe. Beides erfüllte ihn mit Leid. Gideon konnte sich auf ihre Liebe nicht verlassen und verdiente nicht ihr Vertrauen.
Er schloss die Augen und bemühte sich, die Kraft zu finden, ihr die Bitte abzuschlagen. Alles zwischen ihnen würde sich ändern, wenn sie erst einmal wüsste, was in Indien passiert war. Er konnte sie mit dem Schrecken seiner Vergangenheit nicht belasten. Er durfte sie nicht in das Chaos seines Lebens verstricken.
Doch die in ihm gärende Schuld und zu viel Alkohol stellten seine Grundsätze auf den Kopf.
Widerwillig öffnete er die Augen und trat einen Schritt näher. »Der Nawab ließ uns in Ketten legen und
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