Fesseln der Sünde
all dieser Leute.«
Er war so angespannt, als hätte sie ihn mit einem Degen anstatt mit Worten angegriffen. Sie erwartete, dass er zu lügen begann oder sich weigerte, ihr zu antworten. Doch er nickte ihr unvermittelt zu. »Ja.«
Sie zog sich vorsichtig zurück, als wollte sie ein wildes Tier beruhigen. Unsicher tastete sie mit einer Hand hinter sich, bis sie die Rückenlehne eines Stuhles erfasste. »Ich werde nicht in deine Nähe kommen.«
»Danke«, erwiderte er ruhig, und Erleichterung sprach aus seinen Worten.
Sie behielt den gleichmäßigen Ton in ihrer Stimme bei, als wäre er wirklich ein Tier, das in die Falle eines Wilderers geraten war. »Willst du dich nicht setzen?«
Er zögerte und ging mit ruckartigen Bewegungen zu seinem Stuhl zurück. In dem schwachen Licht sah er müde, aber dennoch beherrscht aus. Sie sank langsam auf den Stuhl, den sie festhielt und rollte ihre kalten Zehen unter sich ein.
»War das schon immer so bei dir?« Sie dachte darüber nach und beantwortete sich ihre Frage selbst. »Nein, war es nicht. Du hattest Geliebte.«
»Charis …«
Sie knetete die Hände in ihrem Schoß und hob das Kinn. Ihr Mut geriet ins Wanken, aber sie fasste sich ein Herz. Sie war sich ihrer Schuld bewusst, seine Müdigkeit, seinen betrunkenen Zustand und sein Elend auszunutzen, doch sie musste ihre Chance ergreifen.
Sie presste die Frage hinaus, vor der sie sich immer gefürchtet hatte. »Was ist in Rangapindhi passiert?«
13
Selbst im Halbdunkel konnte Charis sehen, wie das Blut aus Gideons Gesicht wich. Seine Augen wurden trüb, als werde er von grausamen, nur für ihn sichtbaren Gespenstern verfolgt. Er griff nach den Stuhllehnen wie ein ertrinkender Seemann nach Treibholz, um sich über Wasser zu halten.
Jeder mit einem Funken Mitgefühl würde nachgeben. Ihm sagen, seine Geheimnisse gehörten ihm.
Sie blieb still und wartete.
Als sie die Hoffnung auf eine Antwort bereits aufgegeben hatte, holte er keuchend Luft und richtete seinen Blick auf sie. »Mein Tutor in Cambridge empfahl mich der Ostindien-Kompanie.«
»Wegen deiner Sprachbegabung?« Sie hielt ihre Stimme vorsichtig neutral.
»Ja. Und ich konnte reiten, Kricket spielen, fechten und gut schießen. Die Kompanie wollte immer Männer mit besonderen Fähigkeiten.«
Als würde es viele Rekruten mit diesen Talenten geben, dachte Charis und bemerkte wieder einmal, wie wenig er sich auf seine Fähigkeiten einbildete. Seine außerordentlichen Leistungen als Schüler und Sportler überraschten sie nicht. Sie hatte von Anfang an gewusst, wie außergewöhnlich er war. Tragisch daran war, dass er so viel konnte, was aus dem Rahmen fiel, ihm aber etwas so Einfaches und Grundlegendes, wie die Hand eines Menschen zu berühren, versagt blieb. Ihr Magen verkrampfte sich vor einem Gefühl, das tiefer als Mitleid war.
»Ich wollte Karriere machen, war reif für Abenteuer, begierig, ein Ventil für meine Energie zu finden.« Seine Stimme war heiser, aber ruhig. Nur sein abgespanntes, bleiches Gesicht deutete auf die Qualen hin, die ihm das Erzählen bereitete. »Ich machte mich auf den Weg, um einem unwissenden Volk das Licht der europäischen Zivilisation zu bringen.«
»Doch es war nicht so?« Sie musste kaum fragen. In seinem Ton schwangen zerbrochene Illusionen mit.
»Nein. Ich traf auf eine hoch entwickelte exotische Welt, die jenseits meiner kühnsten Vorstellungen lag.«
Er hatte ihr erzählt, als Verbindungsmann gearbeitet zu haben, doch das sagte ihr nichts. »Du warst also eine Art Verwalter?«
Kälte sprach aus seinem Gesichtsausdruck. »Nein, nicht etwas derart Bewundernswertes, Charis. Ich war ein Spion.«
Der Schock darüber drückte sie in ihren Stuhl. Endlich fügten sich die vielen, für sie so verwirrenden Einzelteile zu einem Bild zusammen. Seine Klugheit und Zuversicht in Bezug auf Hubert und Felix. Seine Gewandtheit bei einer Straßenschlägerei. Seine Verschwiegenheit. Sein Schamgefühl.
Als sie nichts erwiderte, fuhr er immer noch mit dieser ruhigen Stimme fort, die so im Widerspruch zu der in seinen Augen liegenden Qual stand. »Ich bin von Natur aus dunkelhäutig und werde in der Sonne schnell braun. Aus mir wurde Ahmal, ein muslimischer Schreiber. Ein Schreiber erfährt die Geheimnisse eines Königreiches, und nur wenige hinterfragen, was er macht.«
Sie knetete ihre Hände so fest, dass sie schmerzten. Es war ihr fast unmöglich, ihre Maske der Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten. »Es muss schwierig gewesen
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