Fesselnde Entscheidung (German Edition)
Glasvitrine vorbei gehen, ohne stehen zu bleiben. Er genehmigte sich einen Schluck von seinem edelstem Tropfen, einen zwischenzeitlich 42 Jahre alten Whiskey.
Frau Seibel hatte ihm einige Unterlagen auf den Schreibtisch gelegt. Wahrscheinlich war sie dabei gegen seinen Sessel gestoßen, sinnierte er. Eigentlich sollte sie es besser wissen, selbst die Reinigungskraft wusste, wie sein Stuhl zu stehen hatte. Bevor er sich hinsetzte, nahm er die Verträge, die Löser obenauf gelegt hatte, an sich. Ehrfürchtig blätterte er sie durch und sah sich noch mal die frischen Unterschriften an. Eigentlich war es gut, dass Elli nicht dabei gewesen war. Sie hätte sicherlich verhindert, dass die Vereinbarungen bereits heute unter Dach und Fach waren. Dadurch hatten sie viel Zeit gespart. Irgendwie würde er es ihr schon schonend beibringen, dass das Projekt starten würde. Zum Glück hatte sie noch kein Vetorecht – noch nicht. Bedächtig legte er die Dokumente in den Tresor, der sich – versteckt in der Schrankwand -- hinter seinem Chefsessel befand. Nur Elli und er kannten den Code.
„Ach Elli“, sprach er zu sich selbst, während er sich hinsetzte. Eine Unterschriftenmappe, ein brauner DIN A4 Umschlag und ein weißer Computerausdruck lagen fein säuberlich nebeneinander auf seinem Schreibtisch aufgereiht. Der weiße Zettel erhielt seine erste Aufmerksamkeit, vermutlich weil sich neben dem Bedruckten eine handschriftliche Notiz befand, die sein Interesse weckte.
„Sehr geehrter Herr Dr. Schulte, leider wusste ich nicht, von welcher „Kristina Lange“ Sie die Telefonnummer haben wollten. Ich habe vier gefunden und Ihnen alle ausgedruckt. Hoffentlich ist die richtige dabei!! Schönen Abend! E. Seibel“
Neben drei Telefonnummern stand auch die Adresse, bei einer fehlte sie. Das muss ihre sein, dachte er, weil er wusste, wo Kristina wohnte. Er schaute auf sein Handy, zum x-ten Mal an diesem Tag. Nichts. Auf dem Weg zu Tessa würde er Kristina anrufen. Gedankenverloren nahm er den braunen Umschlag in die Hand. Er drehte ihn um und entdeckte weder einen Empfänger noch einen Absender. Er wunderte sich, normalerweise öffnete Frau Seibel die Umschläge und legte ihm die Briefe dann vor. Warum sie ihm diesen Umschlag kommentarlos einfach hingelegt hatte, verstand er nicht. Aber Frau Seibel wäre nicht Frau Seibel, wenn sie nicht ab und zu mal etwas machen würde, was er nicht unbedingt nachvollziehen musste. Er öffnete umständlich den Umschlag und zog einen weißen Zettel heraus. Von einer Sekunde zur nächsten erstarrte er.
ELISA IST IN MEINER GEWALT. ICH ENTSCHEIDE ÜBER LEBEN UND TOD. WENN DU SIE LEBEND UND IM GANZEN ZURÜCK HABEN WILLST, WERFE 1 MILLION EURO IN EINEM SCHWARZEN MÜLLSACK AM DONNERSTAGFRÜH UM 4 UHR IN DEN ABFALLEIMER MIT DEM AUFKLEBER „KINDER“ IM BUCHENPARK. KEINE TRICKS, KEINE POLIZEI – SONST FINDEST DU IHRE EINZELTEILE ÜBERALL IN DER STADT VERTEILT. SUPER PRESSE. DEINE ENTSCHEIDUNG.
Mit dem Einstecktuch aus seinem Anzug wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Sein erster Gedanke war, wo er bis übermorgen so viel Geld auftreiben sollte. Dann fragte er sich, wie der Umschlag auf seinen Schreibtisch gelandet war.
Sie waren ein Hochsicherheitsbetrieb. Hier kam niemand Unbefugtes einfach herein. Gut, sicherlich war das Labor, welches sich außerhalb der Stadt befand, mehr gesichert als der Bürokomplex. Allein der Umgang und die Erforschung mit hochpathogenen Viren, die nach dem Gentechnikgesetz zum Biologischen Sicherheitslevel 4 (BSL4) gehörten, machten dies erforderlich. Der Zutritt zum BSL4-Labor war nur über einen Schlüssel, der in einem Tresor lag, möglich. Das wäre natürlich für die Verwaltung übertrieben gewesen. Aber auch hier gab es Sicherheitspersonal, einen Pförtner und mehrere Schleusen, die sich nur mit speziellen Zutrittskarten öffnen ließen. Er griff zum Telefon und wählte die Durchwahl des Wachdienstes.
„Krüger, guten Abend, Herr Dr. Schulte!“
„Herr Krüger,gab es heute irgendwelche besonderen Vorkommnisse?“
„Nein, außer das Eintreffen der Delegation, aber das wissen Sie ja. Wieso?“
„Hat heute irgendjemand einen Besucherausweis erhalten?“
„Nein, Herr Dr. Schulte, so weit ich weiß nicht. Mein Dienst hat um 14 Uhr begonnen und da habe ich keinen ausgestellt. Aber ich kann noch mal in die Datei schauen, ob vorher etwas war. Einen Moment bitte. … Nein, seit zwei Monaten wurde gar kein Besucherausweis mehr ausgestellt. Zurzeit sind gar
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