Fesselnde Entscheidung (German Edition)
Oskar hatte nach der 10. das Gymnasium verlassen, um eine Ausbildung bei der Polizei zu machen. Ein Schulpraktikum hatte ihm so gut gefallen, dass er seinen Eltern eines Abends klar gemacht hatte, kein Abi zu brauchen, da er Polizist werden wollte. Diese hatten die Begeisterung ihres Sohnes nicht im Geringsten geteilt und hatten ihn – wenn schon Polizei dann zumindest – zu einer Laufbahn im gehobenen Dienst animieren wollen. Dafür hätte er mindestens die Fachhochschulreife benötigt. Aber Oskar hatte nicht warten wollen und sich wie auch so oft in seinem späteren Leben durchgesetzt. Im Nachhinein hatte Oskar dann die erstaunliche Erfahrung gemacht, dass seine Eltern durchaus gelegentlich einmal recht gehabt hatten. Mit Abi wäre er die Karriereleiter vermutlich schneller und steiler herauf geklettert. So hatte er alles mitgenommen und sich oft dabei ertappt, mit seiner Arbeit unzufrieden zu sein. Schließlich hatte er es zwischenzeitlich doch nach ganz oben schaffen wollen. Wäre ihm diese Erkenntnis in jungen Jahren gekommen, hätte er sich vieles ersparen können. Aber Oskar war nie der Typ, der den einfachen Weg ging, wenn man ihm zwei zur Wahl gestellt hatte. Irgendwann hatte er es geschafft und wurde zum leitenden Kriminaldirektor ernannt. Seine Freude darüber währte aber nur kurz. Eine Hetzkampagne, nach der er angeblich der rechten Szene angehört hatte oder zumindest mit ihr sympathisiert haben sollte, hatte ihm das Genick gebrochen. Nach nur neun Monaten im Amt, musste er zurücktreten, weil die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachgegangen war und gegen ihn ermittelt hatte. Auch wenn ihm nie etwas nachgewiesen wurde und er stets alles vehement abgestritten hatte, sein Ruf war ruiniert gewesen. Er hatte nie erfahren, wer die Kampagne damals ins Leben gerufen hatte. Neider hatte er viele – und Feinde noch mehr. Nach einem kurzen Prozess der Selbstzerstörung, in dem er stark dem Alkohol zugesprochen hatte, hatte er eine mehr oder weniger erfolgreiche Privatdetektei gegründet.
Die gute Freundschaft zu Schulte hatte trotz der unterschiedlichen beruflichen Wege lange gehalten - bis zu dem Zeitpunkt als Schulte Elisabeth geehelicht hatte. Es hatte keinen wirklichen Streit gegeben. Aber ab diesem Zeitpunkt hatte der Kontakt kontinuierlich abgenommen bis er schließlich ganz eingeschlafen war. Zuvor hatten sie viel Zeit zu dritt verbracht. Sie waren lange Zeit ein perfektes Trio, bis sich Elisabeth irgendwann für einen von den beiden entschieden hatte – für Schulte.
Das letzte Mal hatte Schulte Oskar auf der Beerdigung von Elisabeth getroffen. Oskar war sichtlich mitgenommen gewesen und tief bewegt. Die beiden ehemals besten Freunde hatten sich mehrere Minuten weinend in den Armen gelegen und kein Wort gesagt. Schließlich hatte Oskar Schulte seine Visitenkarte überreicht und seine Geheimnummer darauf notiert. Ohne ein Wort waren sie damals auseinander gegangen.
Jetzt hielt Schulte die Karte in der Hand und bewegte sie zwischen seinen Fingern hin und her. Warum zögerte er? Elisabeth hätte ihn sofort kontaktiert, sie hatte ihn sehr gemocht, dass wusste er. Schlussendlich gab er sich einen Ruck und wählte die Nummer, es gab keine Alternative.
Nach drei Freizeichen meldete sich Oskar müde am Telefon
„Hallo?“
„Hallo Oskar, ich bin`s, Marc.“
Keine Antwort.
„Oskar, wo können wir uns unbeobachtet und unbelauscht kurzfristig treffen?“
Blitzartig erwachte Oskars Kriminalsinn.
„Ich hole dich in einer halben Stunde ab. Du bist in der Firma?“
„Ja.“
Oskar beendete die Verbindung, Schulte legte verblüfft den Hörer auf. So einfach hatte er sich das Telefonat nicht vorgestellt – vor allem nicht so kurz. Schulte fragte sich, wie es wohl sein würde, Oskar nach all den Jahren wieder gegenüber zu stehen. An die Beerdigung seiner Frau hatte Schulte nur verschwommene Erinnerungen. Wann hatte er Oskar davor das letzte Mal getroffen? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Schulte faltete den Erpresserbrief sorgfältig zusammen und legte ihn zurück in den braunen Umschlag. Dann knickte er ihn und steckte ihn sich in die Sakkotasche. Auf einmal wurde sein Herz ganz schwer, er dachte an Elli. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel ihm seine einzige Tochter bedeutete. Es gab den einen oder anderen Moment, da hätte er sie am liebsten auf den Mond geschossen. Aber jetzt war alles anders. Alle Streitereien vergeben und vergessen. Er wollte sie nur noch zurück – lebendig.
9. Kapitel
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