Fessle mich!
belastend empfindet, helfen, sie sinnvoll in seine Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.
Sexuelle Praktiken, die heute unter aufgeklärten Menschen längst nicht weiter hinterfragt werden – etwa Selbstbefriedigung, Oralverkehr und Homosexualität – galten alle vor einiger Zeit noch als »abartig« oder »pervers«. Man kann bei solchen Einordnungen nicht einfach nach der Ansicht der Bevölkerungsmehrheit gehen. Andernfalls wäre beispielsweise Homosexualität in vielen islamischen Staaten (und wohl auch im »Bibelgürtel« der USA) noch immer sündhaft und widernatürlich. Weiterhin: Noch am 29. Dezember 1975 ließ die katholische Kirche in einer »Kongregation für die Glaubenslehre« verlautbaren, dass Selbstbefriedigung eine »zumindest schwer ordnungswidrige Handlung« darstelle. Heute gilt durch Befragungen gesichert, dass diese Ordnungswidrigkeit von deutlich über 90 Prozent aller sexuell gesunden Personen ausgeübt wird. Je mehr Selbstbefriedigung enttabuisiert und von ihrer negativen Bewertung befreit wurde, desto mehr Menschen sahen die Möglichkeit, sich frei dazu zu bekennen.
Aufschlussreich ist es, sich einmal näher anzuschauen, wie selbst die Sexualwissenschaft nur allmählich von der Vorstellung abrückte, bei Homosexualität und Sadomasochismus handele es sich um seelische Störungen. Ist das freizügig-liberale Europa hier so viel weiter als die prüde-puritanischen USA? Im Gegenteil. In Europa nämlich gilt das Diagnosehandbuch International Classification of Diseases (ICD) als Grundlage für die Einordnung psychologischer Defekte. Darin galt bis zum Jahr 1993 die Homosexualität noch als eine Form von seelischer Störung. In den USA hingegen, wo man sich am Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) orientiert, galten Homosexuelle bereits 20 Jahre früher als gesund. Ähnlich reaktionär sind wir Europäer, wenn es um Sadomasochismus geht. Der wird in dem bei uns geltenden Diagnosehandbuch noch immer als Störung aufgeführt, während er in den USA 1994 aus der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen wurde, worauf Dr. Flynn im Gespräch mit Anastasia Bezug nimmt. Ratschläge, wie man diese vermeintlich seelische Störung etwa in Form von Spielen mit Handschellen am lustbringendsten in die Tat umsetzt, erscheinen jedoch längst auch in etlichen europäischen Zeitschriften und werden auch von der breiten Mehrheit der Bevölkerung gerne gelesen, wenn nicht ausprobiert. Die europäische SM-Szene, darunter die deutsche Bundesvereinigung Sadomasochismus, setzt sich schon seit einiger Zeit gegen die Vorurteile und Diffamierungen, die in diesem Diagnosehandbuch festgeschrieben werden, zur Wehr. Als Folge davon wurden bereits in Dänemark und Schweden entsprechende Änderungen der fragwürdigen Passagen durchgesetzt.
Mitunter wird dieses Problem aber ein wenig komplizierter. Die zentrale Frage lautet dann für so manchen: Woher weiß ich, ob es sich bei uns noch um eine gesunde Beziehung handelt oder nicht schon um ungesunde Abhängigkeit und Missbrauch? Angenommen zum Beispiel, Anastasia würde unter SM-Spielen immer so leiden wie zum Ende des ersten Bandes, würde sich Christian zuliebe aber dennoch immer wieder dazu bereit erklären. Ist das noch gesunder Sex? Nach Auffassung der wohl meisten Sadomasochisten nicht, denn er wäre nicht »sane«. Wo aber verläuft hier die Grenze? Gibt es bestimmte Kategorien, an denen wir uns besser orientieren können?
Da in den Massenmedien, vor allem im Boulevard, in erster Linie Berichte über jene Fälle landen, in denen SM dramatisch schiefgeht, haben viele Menschen Angst, dass bei einer solchen Neigung die Gefahr einer zerstörerischen Entwicklung groß ist. Manche Menschen befürchten, ihre liebe Freundin oder ihr guter Kumpel könne abdriften und den Bezug zur Alltagswirklichkeit verlieren, weil er plötzlich von nichts anderem mehr spricht als von seiner neuen Leidenschaft für SM, sich zunehmend zurückzieht, sein Geld für entsprechende Literatur, Klamotten und Sexspielzeug ausgibt, keine Szeneparty auslässt und insgesamt so wirkt, als sei er gerade dabei, sich einer neuen Sekte anzuschließen. Natürlich können all diese Dinge wie Alarmsignale wirken und Ängste auslösen – sei es um das Wohlergehen eines guten Freundes, sei es um den Verlust der Beziehung. Der Betreffende scheint in den Sog einer undurchsichtigen Welt zu geraten, über die man nicht nur Gutes gehört hat.
In der weit überwiegenden Mehrzahl aller
Weitere Kostenlose Bücher