Fessle mich!
im selben FOCUS-Artikel nachlesen kann, hatten bereits vor einigen Jahren Forscher aus Gießen versucht herauszufinden, ob prägende Erlebnisse eine Vorliebe für härtere sexuelle Praktiken fördern. Das Ergebnis: »Die Wissenschaftler um Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften, konnten keinen Zusammenhang finden. Von Protagonist Christian Grey auf Menschen zu schließen, die BDSM-Techniken praktizieren, ist nicht möglich.« Und das, so kann man ergänzen, ist nicht die einzige Studie, die in diese Richtung deutet.
Eine ganze Reihe von Untersuchungen weist darauf hin, dass Menschen, die auf Unterwerfungserotik stehen, sich statistisch in keiner Weise von ihren Mitmenschen unterscheiden, was geistige Gesundheit und Stabilität angeht. Weder waren die betreffenden Menschen in ihrer Kindheit missbraucht worden noch therapiebedürftig noch hielten sie an überholten Geschlechterrollen fest. In einer Studie der klinischen Psychologin Dr. Pamela Connolly zeigte sich sogar, dass seelische Störungen wie Depressionen, Angstneurosen und Zwangsverhalten unter den Mitgliedern der SM-Gemeinschaft etwas weniger verbreitet sind als in der Allgemeinbevölkerung. Und eine in der Fachzeitschrift Journal of Sexual Medicine veröffentlichte Studie der australischen Universität von North South Wales, an der 20 000 Personen teilnahmen, gelangte zu dem Ergebnis, dass SM-Anhänger glücklicher als andere Menschen waren. Die an der Studie beteiligte Professorin Juliet Richters nimmt folgenden Grund dafür an: »Möglicherweise befinden sich diese Menschen mehr im Einklang mit sich selbst, weil sie etwas Ungewöhnliches mögen und sich gut dabei fühlen.« Selbst der Gesundheits-Brockhaus stellt unter dem Eintrag »Masochismus« nüchtern fest: »Werden die masochistischen Bedürfnisse in gegenseitigem Einvernehmen mit entsprechend veranlagten Sexualpartnern ausgelebt, wird Masochismus weder für den Betroffenen noch für andere zum Problem. Innerseelische und partnerschaftliche Komplikationen drohen meist nur dann, wenn die masochistischen Bedürfnisse verschwiegen, verdrängt oder nur unter großen Schuldgefühlen ausgelebt werden.«
Man muss es E. L. James sehr zugutehalten, dass sie in Band 2 ihrer Romantrilogie Christians Therapeuten Dr. Flynn Anastasia entsprechend aufklären lässt. Erotischer Sadismus, verdeutlicht er ihr, gelte seit den Neunzigerjahren nicht mehr als Krankheit oder Störung, sondern als frei gewählter Lebensstil. Wichtig sei, dass es sich um eine sichere, vernünftige und einvernehmliche Beziehung unter Erwachsenen handele – auf gut englisch »safe, sane, and consensual«, was als inzwischen feststehender Begriff zum Motto der SM-Liebhaber geworden ist. »Sicher« bedeutet hierbei nicht nur Safer Sex im bekannten Sinne, sondern auch im Sinne der vielen Sicherheitshinweise in diesem Ratgeber. »Sane« ist der am meisten vage dieser drei Begriffe, er bedeutet so viel wie »mit gesundem Menschenverstand«, »vernünftig« und »der menschlichen Psyche zuträglich« – sämtliche Handlungen sollen also auch seelisch im verantwortungsbewussten Rahmen ablaufen. Alle Partner sind im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und sich über sämtliche Risiken bei ihren Aktionen im Klaren. Insbesondere ist ihnen der Unterschied zwischen Fantasiewelt und Realität bewusst. In diese Kategorie gehört auch das Prinzip des »Hurt, no Harm«, das kurzfristige Schmerzen und andere Belastungen wohlwollend erlaubt, langfristige körperliche oder seelische Schädigungen aber strikt ablehnt. »Consensual« schließlich verdeutlicht, dass auch Lustsklaven nur freiwillig üble Torturen über sich ergehen lassen sollten.
Wenn das alles gewahrt ist, gibt es mit SM aus Sicht der Sexualwissenschaft keine Probleme. Bei Christian Grey dürfte der gute Dr. Flynn zwar einiges zu therapieren haben – seine SM-Vorliebe an sich gehört aber nicht dazu. Zwar kann man auch heute noch an einen Therapeuten geraten, der einen von dieser Neigung gerne »befreien« möchte. Das ist aber schwer zu rechtfertigen, solange niemand durch diese Vorliebe geschädigt wird und sie lediglich manchen konservativen Moralvorstellungen widerspricht. Es hat sich inzwischen vielfach herausgestellt, dass eine versuchte Beseitigung dieses Faibles durch therapeutische Eingriffe so gut wie nie Erfolg zeitigt, sondern stattdessen hauptsächlich Schaden anrichtet. Bestenfalls kann eine Therapie jemandem, der seine Vorlieben als
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