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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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Angst vor sich selbst.« »Wir alle spielen Theater, sagt Montaigne, es kommt nur darauf an, die eigene Rolle zu kennen, nicht zu übertreiben und zu wissen: Man soll nur das Gesicht schminken, nicht das Herz.« Der vierte merkwürdige Satz des Commissaire. Swoboda dachte über Montaignes Lebensweisheit nicht nach. Er dachte an sich selbst: Wenn sein Kollege von der Pariser Kripo recht hatte mit seinen Vermutungen, steckte er, Pensionierung hin oder her, mitten in einem neuen Fall, der so verworren wie unheimlich war.

V Zwischen den Flüssen
    Klara Matt hatte sich in ihrem letzten Lebensjahr zusehends verhärtet. Nicht, dass sie sich gebeugt und den Blick zur Erde gerichtet hätte – sie verfiel aufrecht, steif wie ein Stock. Ihr Höcker zwischen den Schulterblättern beulte sich stärker und verholzte. Um ihr Kinn vorzustrecken, legte sie ihren Kopf in den Nacken und konnte diese Haltung, in der sie Ähnlichkeit mit einem Chamäleon hatte, bald nicht mehr aufgeben. Ihr Gesicht vergröberte sich so sehr, dass selbst ihre Enkelin bei seinem Anblick erschrak. Martina Matt sah, dass das Alter, von dem es heißt, es mildere die Menschen, aus dem Gesicht ihrer Großmutter eine Maske des Starrsinns und der Verbitterung formte. Auch Klaras Tochter Ilse konnte diese Veränderung kaum ertragen. Im Hotel Korn am Mührufer glaubte die Alte noch immer zu herrschen und kujonierte ihre Tochter mit unsinnigen, bisweilen grotesken Anweisungen, wie zum Beispiel der, dass sie den Gästen Zettel mit Zimmernummern an die Kleidung stecken sollte, um sie beim Frühstück mit einem Blick identifizieren zu können. »Es schleicht sich sonst jeder Zigeuner hier rein und frisst sich auf unsere Kosten satt.« Ilse Matt, die mit ihren fünfundsechzig Jahren auf ein unglückliches Leben in Zungen an der Nelda zurückblickte, hatte sich entschieden, den Reden der Greisin keine Argumente entgegenzusetzen, sondern ihr mittels Zustimmung den Mund zu verschließen. Ihr fehlte die Kraft zum Widerspruch, so wie ihr die Hoffnung fehlte, irgendwann von ihrer Tochter Martina geliebt zu werden. Auf die Liebe ihrer Mutter Klara zu hoffen, hatte sie als junge Frau schon aufgegeben. Wenn sie ihr Leben prüfte, was sie in den Nächten bei Cognac oder Wodka häufig tat, sah sie eine Summe von Fehlern, zähe Jahre voller Arbeit und ohne Freude. Der einzige Lichtblick für ihre Zukunft war Klaras Tod, der sie von dem bösartigen Regiment der Mutter befreien würde. Sie schämte sich für diese Hoffnung, konnte sich aber nicht von ihr lösen. Im zurückliegenden Jahr, als die Kleinstadt von ihrer längst vergessen geglaubten Vergangenheit eingeholt und in der Folge von entsetzlichen Verbrechen heimgesucht worden war, hatte Klara Matt auf die Ereignisse gedemütigt, geschwächt und verwirrt reagiert. Sie verlor die Ordnung der Zeit, verwechselte Gäste mit Dienstboten und lud einen dänischen Vertreter für Bootsmotoren in ihre Wohnung im ersten Stock des Hotels ein, um ihm zu seiner »Ernennung zum Gauleiter« zu gratulieren. Ilse verbot ihr daraufhin jeglichen Kontakt mit Hotelgästen. Fortan blieb Klara Matt in ihren Räumen. In den ersten Tagen des September hatte sie sich eines Morgens geweigert, ihr Gebiss einzusetzen und sich, wie in den Monaten zuvor, gepflegt und adrett gekleidet an ihrem Schreibtisch mit fiktiven Rechnungen zu befassen. Stattdessen ließ sie sich vom Bett zum Toilettenstuhl am Fenster führen, wo sie, in eine Decke gehüllt, auf dem gepolsterten Sitzring den Rest des Tages auf den Fluss hinunter sah oder vor sich hindämmerte, um abends von ihrer Tochter Ilse mit groben Handstrichen gereinigt und wieder ins Bett gebracht zu werden. Martina hatte ihre Großmutter nur noch zwei Mal besucht, das Zimmer wegen des Gestanks und wegen des Dämmerzustands von Klara aber nach wenigen Minuten wieder verlassen. Sie hatte, und auch Ilse bestätigte das, gehört, dass die zahnlose Alte in ihren letzten Tagen nur zwei Worte in großen Abständen vor sich hin brummte: »Die Juden. Die Juden.«
    Eine ansehnliche Menge Menschen hatte sich zu Klaras Beisetzung auf dem Alten Friedhof von Zungen vor der Grabstätte der Familie Matt versammelt. Obwohl der letzte Septembertag unter wolkenlosem Himmel heiß war, als wäre es August, hatte Martina sich gegen ihr ärmelloses schwarzes Kleid entschieden und stand im Trauerkostüm, die blonden Haare im Nacken gebunden, neben ihrer Mutter Ilse, die auf der anderen Seite von Alexander Swoboda begleitet wurde. Ilse

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