Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
Vom Netzwerk:
hatte, im Wechselbad von Trauer und Erleichterung, die Nacht durchgetrunken, nur drei Stunden geschlafen und verbarg die Augen hinter einer italienischen Sonnenbrille, das wirre graue Haar unter einem alten schwarzen Strohhut. Ihr unsicherer Gang, durch Martina und Swoboda in der Spur gehalten, wurde allgemein der Schwäche zugeschrieben, die man Trauernden konzediert. Da mit Klara Matt eine bedeutende Unternehmerin der Stadt, für Jahrzehnte Herrin über das Hotel Korn und das Gasthaus Fischerwirt , zu Grabe getragen wurde, hatten sich fast alle Stadträte sowie der Oberbürgermeister, Baustoffhändler Heinz Ehrlicher, eingefunden. Dazu die Fleischunternehmerin Liesel Ungureith, der neue Herausgeber der Zungerer Nachrichten ZN , Mark Strabo, ein alerter junger Mann, dessen gegeltes blondes Haar gut zur ganzen Erscheinung in einem zu knapp sitzenden Konfirmandenanzug passte. Die Bediensteten des Hotels standen in dritter Reihe um das Grab, hinter ihnen Geschäftsleute, Beamte, Zungener Bürger, in der Mehrzahl ältere Frauen, und ganz hinten der nun neunzigjährige Jugendgeliebte von Klara, Otto Sinzinger. Der Ehrenvorstandsvorsitzende der Zickerbräu AG (»Zickerpils, Zickerdunkel, Zickerbock, Zickerweiße«) – neben der Fleischwarenfabrik Ungureith wichtigster Arbeitgeber der Kleinstadt – hielt Abstand zu den Trauergästen. Man wusste zu gut über ihn Bescheid. Dass er Klara 1944 mit der gemeinsamen Tochter Ilse sitzen gelassen und eine Krankenschwester aus dem Kriegslazarett geheiratet hatte, war für seine Reputation in Zungen an der Nelda nicht schädlich gewesen. War nicht alles für alle anders gekommen, als man es sich in jungen Jahren erhofft hatte? In der Zeit der großen Erwartungen, als Otto stolz in der schwarzen Uniform durch die Straßen der Altstadt gelaufen war, der Traummann nicht nur von Klara? Noch in dem Urlaub von der Front, in dem er Ilse gezeugt hatte, war für die meisten der Glaube an den Endsieg ungebrochen. Und dann? Blieb irgendetwas bestehen, was vorher gegolten hatte? Otto Sinzinger hatte die Ärmel aufgekrempelt, sein bisheriges Leben im Schatten der Geschichte verschwinden lassen und in der sogenannten Stunde null seine Chance erkannt. Er braute fortan in der ehemals jüdischen Brauerei sein Bier für die neue demokratische Zeit. Als sein Sohn Xaver fünfundvierzig geworden war, 1998, hatte er ihm die Geschäfte übergeben und die Dynastie gesichert. Doch im zurückliegenden Jahr waren durch Untersuchungen von Kriminalhauptkommissar Alexander Swoboda die hässlichen Schattenseiten von Otto Sinzinger und Willy Ungureith ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Ein Teil der Zungener Bürger war darüber erbost, dass die Polizei derart verdiente Häupter der Stadt wegen ihrer wahrhaft lang vergangenen SS-Jugend überhaupt verfolgte; andere waren empört, weil beide Mordprozesse wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten ausgesetzt worden waren. Von Rechts wegen hätte der Ehrenvorsitzende des Zickerbräu-Aufsichtsrats hinter Gittern sitzen müssen, statt hier als freier Mann, ungebeugt und imposant, in der milden Herbstsonne zu stehen und seinen roten, blanken, kantigen Schädel aufgerichtet zu tragen, als wäre sein ganzes Leben Ehre und Würde gewesen. Man hatte ihm weder die Bürgermedaille der Stadt noch das Bundesverdienstkreuz aberkannt, auch nicht die Goldene Verdienstmedaille des Deutschen Brauerbundes. Für die Schande, die ihn am Ende seines Lebens ereilt hatte, machte er Klara verantwortlich, die nun in die Erde gesenkt wurde. Er war sich nach wie vor keiner Schuld bewusst, ein Otto Sinzinger handelte nicht falsch, ganz gleich, was er tat. Sein Sohn Xaver hatte sich entschieden, nicht zur Beisetzung Klaras zu gehen. Er mied den unehelichen Anteil der Familie und befürchtete mögliche Ansprüche von Ilse Matt auf einen Teil des Sinzinger-Erbes. Sein Vater Otto bedauerte die fortgesetzte Unehelichkeit bei den Matts, denn auch seine und Klaras Tochter Ilse wurde unverheiratet schwanger von einem durchreisenden Handelsvertreter mit Opel Rekord, der sich nach der Zeugungsnacht nie wieder gemeldet hatte. Die Tochter Martina, die 1971 zur Welt kam, hatte ihrerseits in wechselnden Beziehungen keine Neigung gezeigt, zu heiraten, war freilich klug genug, von keinem der Männer schwanger zu werden – auch von ihrem jetzigen Gefährten Alexander Swoboda nicht. Dessen Beziehung zu der fast dreißig Jahre jüngeren Frau hielt in Zungen nicht nur Otto Sinzinger für

Weitere Kostenlose Bücher