Fest der Fliegen
allein in der elterlichen Villa am Hohenzollerndamm mit Blick über die Mühr und auf ein Grundstück mit einer alten Mühle auf der anderen Seite des Flusses. Liesel hatte sich vorgenommen, noch heute mit Alexander Swoboda über dieses weite, brache Land am jenseitigen Mührufer zu sprechen, das ihm als unerwartetes Erbe zugefallen war. Der Priester Leon Schnaubert, zu jung, um der Nazigeschichte Zungens Bedeutung beizumessen, hatte das Nötige gesagt und an der Verstorbenen alles gelobt, was zuvor keiner an ihr bemerkt hatte. Wie sie und ihr Mann sich 1937 das heutige Hotel Korn und das Restaurant Fischerwirt unter den Nagel gerissen hatten, kam in seiner Würdigung nicht vor. Er hielt sich an den Grundsatz De mortuis nihil nisi bene und erwähnte nur, dass Klara Matt die »dunkle Zeit« aufrecht überstanden habe. Immer wenn es um die Jahre 1935 bis 1945 ging, sprach man in Zungen von der »dunklen Zeit«, in der ein jeder, im Rückblick auf die Geschichte, »aufrecht« gewesen war. Außer dem Pfarrer fand keiner sich bereit, Lobreden zu halten. Es war auch zu heiß für ein längeres Begräbnis. Als der Sarg, geschmückt mit roten Astern und den letzten fünf weißen Blüten aus dem Rosengarten des Hotels Korn , gesegnet war und die Totengräber ihn in die Erde hinunterließen, schien Ilse Matt tatsächlich weiche Knie zu bekommen. Sie lehnte sich mehr auf Swobodas Arm als zu Martinas Seite und er hatte einige Kraft aufzuwenden, um nicht gleichfalls zu schwanken. Martina zog ihre Mutter zu sich herüber, sie richtete sich wieder auf. Derart stabilisiert, konnten sie zu dritt in gerader Haltung an die Kante des Grabs treten. Swoboda gab Ilse den Weihwasserwedel in die Hand. Sie schüttelte ihn über der Grube, die Tropfen blitzten in der Sonne. Blumen hatte Ilse nicht. Erde wollte sie nicht nehmen. Sie wandte sich ab und Martina und Swoboda mussten, ohne Klara Matt irgendetwas nachgeworfen zu haben, die jetzt in sich hineinschluchzende Ilse zur Seite führen. Sie wollte nicht warten, um Beileidsbekundungen entgegenzunehmen, sondern drängte ihre beidseits bemühten Helfer vom Grab weg auf den Kiesweg zum Ausgang des Friedhofs.
Die Tische auf der langen Veranda des Fischerwirts an der Mahr waren eingedeckt, im Restaurant stand ein reichhaltiges Buffet bereit. Es gab weißen und roten Burgunder, Wasser, Säfte und Kaffee. Kein Sinzinger-Bier. Man traf in kleinen Gruppen ein, zu Fuß vom Friedhof, der hinter dem Turm der Prannburg im Süden lag. Über die Wilhelmstraße liefen die Gäste eine Viertelstunde durch den sonnenwarmen Mittag in Richtung Landspitze, zum Restaurant am Ufer der Mahr. Die Sandsteinmauern der Bürgerhäuser in der Altstadt, zu großen Teilen im frühen 18. Jahrhundert erbaut, speicherten die Wärme und heizten die Luft in den Gassen auf. Die meisten Herren zogen ihr Jackett aus und trugen es über der Schulter, was ihren Gruppen das Aussehen eines Betriebsausflugs gab. Ilse Matt hatte darum gebeten, nach Hause ins Hotel Korn , das auf der anderen Seite der Landzunge am Stadtufer der Mühr lag, gebracht zu werden. Von dort liefen Martina und Swoboda quer über den Kornmarkt mit dem Ziegenbrunnen und der wasserspeienden Zunger Zick und trafen als Letzte im Fischerwirt ein, wo das Buffet schon, ohne eröffnet worden zu sein, nahezu abgegessen war. Als sie eintrafen, schwirrten Fliegen um die leeren Teller und am Tisch von Pfarrer Schnaubert, der in seiner schwarzen Soutane mehr schwitzte als alle anderen, hatte Otto Sinzinger die für die Angehörigen vorgesehene Bank eingenommen. Er stand abrupt auf, als Martina und Swoboda eintrafen, und setzte sich zwei Tische weiter zu Oberbürgermeister Ehrlicher und einigen Stadträten. Ganz am südlichen Ende der Holzveranda, die zu einem Teil über das Wasser der Mahr hinaus gebaut war, hatte sich ein Herr allein auf einen Stuhl am Geländer gesetzt. Jetzt, obgleich weit entfernt, stand er auf und verneigte sich vor Martina und Swoboda, um den Angehörigen der Verstorbenen – zu denen der Exkommissar streng genommen nicht zählte – seine Achtung zu bezeugen: ein neuer Bürger in Zungen, vor einem halben Jahr zugezogen und, was mehr Aufmerksamkeit erregt hatte, ein Ire namens Leicester Burton. Offenbar ein Mann mit Manieren. Von Sinzinger ließ sich das nicht sagen. Seit seinem Eintreffen wütend, weil hier kein Bier seiner Brauerei ausgeschenkt wurde, kippte er jetzt das dritte Glas Rotwein und starrte zu Swoboda hinüber, der dem Pfarrer einen
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