Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
Vom Netzwerk:
traf, schien er leicht zu schwanken und zurückzufedern, als ob die Treffer in ihn eindrangen und stecken blieben. Die Umsitzenden meinten später, sie hätten sehen können, wie Swobodas Worte den Greis schwächten, wie durch die wenigen Sätze seine Haltung gleichsam aufgeweicht worden sei. Auch habe sein Gesicht, das eben noch rot geschwitzt und hochmütig war, an Farbe verloren und einen ratlosen Ausdruck angenommen. Martina hatte den Kopf gehoben und die beiden stehenden Männer beobachtet: ihren Geliebten und ihren Großvater, die sich in der grellen Hitze dieses Mittags gegenüberstanden, als ginge es um einen zu spät ausgetragenen Streit zwischen Vater und Sohn. Nach einer langen Pause sagte Swoboda: »Du hast von deinem Leben nichts begriffen, Otto Sinzinger, und deshalb wirst du mühsam sterben.« Wie um diesen hochmütigen Satz zu widerlegen, warf Otto Sinzinger plötzlich den Kopf in den Nacken, die Beine knickten ein, er sackte auf die Bank. Man sah den Schweißglanz auf seinem nackten Schädel, den er langsam zur rechten Schulter neigte. Und bevor Heinz Ehrlicher noch stützend eingreifen konnte, kippte der massige Greis ihm quer über den Schoß. Ein danebensitzender junger Mann telefonierte sofort. Es war für einen Augenblick so still, dass man seine Stimme hören konnte. Plötzlich rauschte das Wasser der Mahr unter den Bodenbrettern der Veranda lauter als zuvor. Und über das Rauschen hinweg stieß eine Frauenstimme einen Schrei aus, der die Gesellschaft schlagartig aus der Beobachtung Sinzingers riss. Die alte Buchhalterin des Hotels Korn , Almut Rauter, hatte aufgeschrien. Sie beugte sich, kaum noch im Gleichgewicht, weit über das Geländer und starrte in den Fluss. Wer am Rand saß, sprang auf und trat zu ihr hin. Als Swoboda hinunter in die dunkle Strömung blickte, sah er noch das blasse Gesicht, das durch seine offenen, weißen Augen den Himmel einließ, und den nackten Leib des Toten, der grünlich durch das Wasser schimmernd davontrieb, sich wie eine Kompassnadel drehend, als habe die Mahr es eilig mit ihm. Während der Exkommissar die Kollegen von der Wasserschutzpolizei alarmierte, stahlen sich die meisten Gäste fassungslos davon. Sanitäter trafen ein, die sich um Sinzinger kümmerten. Und einige derer, die gerade noch beim Leichenschmaus gesessen hatten, versuchten, die schicksalhaften Verknüpfungen dieses Vormittags zu begreifen.
    Das allgemeine Entsetzen über den Leichenfund dämpfte freilich nicht die Lust, Sinzingers Auftritt und seinen Zusammenbruch ausführlich zu bereden, zumal die Zungerer Nachrichten ZN in den folgenden Tagen dafür sorgten, dass die ausfälligen Bemerkungen über Alexander Swoboda eingehend erörtert, wiederholt und bis in ihre historischen Anlässe hinein mit allem Für und Wider dargelegt wurden. Wann gab es schon eine solche Story: Prominentenbegräbnis plus Abrechnung plus Zusammenbruch plus nackte Leiche in der Mahr. Das verdoppelte die Auflage und trieb die journalistische Fantasie zu Höchstleistungen an. Der neue Chefredakteur Mark Strabo hatte im Blatt, nach Weisung der Zeitungseigner in der Kreisstadt, dem Klatsch und Tratsch mehr Platz als früher eingeräumt und damit den freien Verkauf steigern können. Er selbst verwob die Geschichte von Klara und Otto zu einer rührenden Königskinder-Legende, die nur deshalb glaubhaft war, weil darin von der geschichtlichen Wahrheit so gut wie nichts vorkam. Die in der Tat eigenartige Fügung, dass Otto Sinzinger am Tag der Beerdigung von Klara einen Hirnschlag erlitt, an dessen Folgen er vier Tage später verstarb, ließ den jungen Journalisten poetisch werden: »So vereinte der Tod, was das Leben getrennt hatte: die Liebe zweier Menschen in schwieriger Zeit.« Dass Strabo die in Zungen gängige Formel für die Nazizeit von »dunkle« in »schwierige« Zeit gemildert hatte, sprach für sein Gespür. Allgemein wurde hier Undeutlichkeit bevorzugt, wo Deutlichkeit zur Nennung von Ross und Reiter hätte führen müssen. Leicester Burton hatte als Außenstehender und Neubürger Sinzingers Schmährede auf der Terrasse des Fischerwirts in stoischer Haltung verfolgt. Unter der zur Schau getragenen britischen Beherrschtheit erregten die Einzelheiten, an denen Sinzingers Wut sich entzündet hatte, seine Neugier. Er wusste, dass man in solche Schicksalslinien und Geheimnisse einer Kleinstadt eindringen musste, wenn man in ihr erfolgreich leben und Teil ihrer Bürgerschaft werden wollte. Eben dies hatte er vor. Von

Weitere Kostenlose Bücher