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Festung Zehn

Festung Zehn

Titel: Festung Zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Bunch
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»Vergeben Sie mir«, sagte er, »wenn ich nervös scheine.« Und er blickte mich aus der Bläue seiner Augen an, die fleischerne Augäpfel hatten, während er an einem kelchförmigen roten Bart zerrte. Und ich war über die »Ersetzungen« entsetzt, denen er nicht zugestimmt hatte, über die Teile von ihm, an die er sich geklammert hatte. Einen verwirrten, geblendeten Augenblick lang war ich fast bereit zu wetten, daß er sogar sein wirkliches Herz hatte. Aber dann dachte ich ach nein, nicht in dieser fortgeschrittenen Zeit und in Moderan. »Dieses Gehen«, fuhr er fort, »geht weiter. Sehen Sie, man braucht eine Weile, um zur Ruhe zu kommen. Wissen Sie, daß ich endlich hier angelangt bin! Ich kann nicht, nicht alle meine Teile, glauben, daß ich wirklich hier bin. Mein Verstand sagt ja! Meine armen Beine glauben weiterhin, daß noch gegangen werden muß. Aber ich bin hier!«
    »Sie sind hier«, echote ich, und ich fragte mich, was als nächstes kommen würde? Worum es eigentlich ging? Ich dachte an die Mäuse, die ich angenagelt hatte und die neue Katze, die wartete, und ich war ungeduldig, denn ich wollte mit meinen Freuden fortfahren. Aber andererseits ist ein Besucher ein Besucher, und ein Gastgeber ist höchstwahrscheinlich ein Opfer. »Haben Sie gegessen? Haben Sie Ihre intravenöse Nahrung gehabt?«
    »Ich habe gegessen.« Er beäugte mich mit seltsam aufgerissenen Augen. »Ich habe nichts Intravenöses gehabt.«
    Minute um Minute fühlte ich mich unbehaglicher. Er stand einfach da und zitterte leicht auf seinen dünnen Beinen, wobei jene Augen mit blauen fleischernen Augäpfeln in meine Richtung blinzelten, und er schien auf eine Reaktion von mir zu warten. »Ich bin hier!« sagte er wieder. Und ich sagte »Ja!«, denn ich wußte nicht, was ich sonst sagen sollte. »Verspüren Sie vielleicht das Bedürfnis, mir von Ihrer Reise zu erzählen«, fragte ich, »von Ihren Versuchungen und Leiden?«
    Dann begann er seinen Bericht. Es war zum größten Teil ein trübseliges langes Lied über anstrengendes Marschieren, über fast unbegründete Hoffnungen, die das betrafen, was er zu finden hoffte, darüber, wie er beständig nähergekommen war, darüber, wie er in den Reum-Bergen fast aufgegeben hatte, darüber, wie etwas, das weit vor ihm auf seinem Weg gelegen hatte, ihn weiter versuchen ließ, etwas, das an einen Lichtschimmer erinnerte, der durch einen Riß in einer eisernen Mauer drang. »Gelange irgendwie über die Mauer«, sagte er, »und du hast es gewonnen, das ganze Licht. Über die Mauer!« Er schaute mich an, als ob es für mich jetzt aber wirklich an der Zeit sei zu reagieren.
    »Warum gaben Sie beinahe in den Reum-Bergen auf?«
    »Warum ich beinahe in den Reum-Bergen aufgab!? Haben Sie jemals versucht, durch die Reum-Berge zu kommen?« Ich mußte zugeben, daß ich es nicht versucht hatte. »Wenn Sie niemals versucht haben, durch die Reum-Berge zu kommen –« Er wurde von einem Anfall geschüttelt, der eine deutlichere Sprache sprach als viele Worte. »Wo sind all die anderen?« fragte er, als das Schütteln ein wenig nachgelassen hatte.
    »All die anderen? Worüber reden Sie?«
    »Oh, ja. Hier müssen doch große Gruppen sein. Es muß lange Listen von Wartenden geben.« Sein weißes kegelförmiges Gesicht hellte sich auf. »Oh, sie sind im Raum des Lächelns. Das ist es, nicht wahr?«
    In diesem Augenblick juckte es mich in meinen großen stählernen Fingern, ihn zu zerquetschen, wie man einen kleinen Wurm zu Brei tritt. Etwas umgab ihn, etwas, das so zart, so vertrauensvoll, so bittend und so sehr gegen meine Vorstellungen von der eisernen Keule und dem großen armeschwingenden Gehen gerichtet war. »Es gibt hier keinen Raum des Lächelns«, stieß ich unbeherrscht hervor. »Und keine langen Listen von Wartenden.«
    Da er nicht gewillt war, sich zerschmettern zu lassen, lächelte er jenes kleine reine Lächeln. »Oh, es muß so eine wunderbare Maschine sein. Und so groß! Nach all den anderen Maschinen diese Eine, diese EINE – endlich!« Große springende Bleikugeln, die auf entblößten fleischernen Zehen hüpften! Was hatten wir hier eigentlich? Einen Irren? Oder hatte er sich nur verlaufen? »Mein Herr«, sagte ich, »ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Dies hier ist mein Heim. Es ist der Ort, hinter dessen Wällen ich mich vor Gefahren abschließe. Es ist der Ort, hinter dessen Mauern ich meinen Spaß habe. Meine Art von Spaß. Es ist eine Festung.«
    Beim Klang dieses letzten Wortes

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