Feucht
Thema des Abends war die «Verführung durch liet und lip», und davon verstand Gereon wirklich etwas. Wenn er die Übersetzungen der mittelalterlichen Minnedichtung auswendig vortrug, sah er mich an, immer nur mich, und dabei senkte er seine Stimme und sprach so leise, als wären wir beide allein im Raum.
Ich hatte damit gerechnet, dass er mich attraktiv fand, ich sehe ziemlich mittelalterlich aus, wenn man das so sagen kann, meine Haare sind lang, gelockt und blond und meine Haut ist weiß wie Milch. Außerdem bewege ich mich wie ein Burgfräulein, eine alte Tante hatte früher, als ich noch zur Schule ging, mal meiner Mutter geraten, mich zurechtzustutzen, ich bewege mich so «huldvoll», und ihrer Meinung nach sollten Frauen bescheiden und demütig sein.
Ich erschrak trotzdem, als Gereon mich nach dem Vortrag an der Garderobe ansprach und fragte, wie mir der Abend gefallen habe. Ich lächelte ihn herzlich an, versuchte mir eine besonders gebildete und kultivierte Antwort einfallen zu lassen, bekam aber keinen Ton heraus und strahlte einfach weiter. Gereon lächelte zurück und flüsterte: «Alle Sänger wären zu Ihrer Burg gekommen und hätten Lieder geschrieben, um dem ganzen Land von Ihrer Schönheit zu berichten.» Normalerweise bin ich ja eher ein sachlicher Mensch, aber ich war so ausgehungert nach Aufmerksamkeit und Abenteuer, dass ich noch breiter lächelte und nur nickte, als er mich fragte, ob ich nicht den Abend bei ihm verbringen wollte. Ich brauchte ihn nicht näher dafür zu kennen, was uns verband, war offensichtlich: die Langweile, in dieser Stadt wohnen zu müssen.
Normalerweise sind spontane Entscheidungen nicht gerade mein Ding, aber jetzt stand ich mit diesem fremden Mann vor seiner Haustür, die Grönemeyerfrisur fiel ihm über den Mantelkragen, und ich bereute es kein bisschen. «Sie haben auch noch eine Wohnimg in Hannover?», sagte ich, um etwas zu sagen, als er im dunklen Eingang nach dem Schlüsselloch tastete. «Nein, ich komme jeden Abend her, aber ich lebe sehr zurückgezogen, deshalb sind wir uns wahrscheinlich noch nicht begegnet.» Dann sah er mir tief in die Augen und küsste mich. Nicht roh und ungeduldig, wie die nach Rauch und Schweiß schmeckenden Männer, die ich manchmal in einer kleinen Kneipe mit Tanzfläche küsste, sondern ganz vorsichtig, so wie man eine kostbare zerbrechliche Statue in die Hand nimmt, um sie näher zu betrachten.
Die Haustür sprang auf, und Gereon schaltete das Licht ein. Innen führte eine breite Holztreppe ins erste Stockwerk, an den Wänden hingen Gemälde, und auf den Kommoden und Regalen an der Wand standen silberne Kerzenleuchter und Fotos. Gerade als ich bemerken wollte, wie geschmackvoll alles eingerichtet war, hörte ich eine weibliche Stimme von oben, die « Da bist du ja endlich» rief, und gleich darauf Schritte auf der Treppe. Eine Frau, die ungefähr das gleiche Alter wie Gereon hatte, also vielleicht zehn Jahre älter als ich, kam herunter. Als sie mich sah, entgleiste einen Moment lang ihr breites Lächeln, dann wurde es wieder sehr herzlich, als sie «Besuch, wie schön» sagte und mir die Hand reichte. «Das ist Mone. Mone: Iris», stellte Gereon uns vor, und wir schüttelten uns die Hand. Die Frau sah aus wie direkt aus einem Gemälde gestiegen, dichtes kupferrotes Haar, ein flächiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und übergroßen, langbewimperten Augen. Ich bin keine Malerin, ich fotografiere nicht einmal gerne, aber anstatt zu überlegen, ob ich eine Frau schön finde, überlege ich immer, ob ich sie malen würde, und meistens sind mir die Gesichter zu leer. Mones nicht. Ihr Gesicht erzählte ganze Romane, und unter anderen Umständen wäre ich neugierig gewesen, sie erzählt zu bekommen, aber im Augenblick war ich nur verwirrt und fragte mich, wieso Gereon mich überhaupt mitgenommen hatte, wenn er verheiratet war, und ob ich vielleicht etwas falsch verstanden hatte. Aber Gereon legte mir zärtlich die Hand um die Taille und sagte: «Gehen wir nach oben» und zu Mone: «Du entschuldigst uns?» Mone nickte.
«Wieso tust du deiner Frau das an?», fragte ich, als wir sein Schlafzimmer betraten, die Lust auf seinen katzenhaft geschmeidigen Körper war mir fast vergangen. Er runzelte die Stirn.
«Manche Beziehungen sind schwierig zu erklären. Aber das hat schon alles seine Ordnung. Mach dir keine Gedanken.»
«Dann ist sie damit einverstanden?»
Er nickte. «Ich würde auch nichts sagen, wenn sie einen Mann mit nach Hause
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