Feucht
ihm her. In dem einstöckigen Haus, eigentlich eher eine Villa, brannte nur in einem einzigen Zimmer Licht, oben auf der ersten Etage. Ich kannte das Haus flüchtig, hatte es aber noch nie betreten. Jeden Morgen auf dem Weg zum Bus ging ich hier vorbei, wenn ich zur Arbeit nach Hannover fuhr. Eigentlich war es merkwürdig, dass ich nie auf den altmodischen, etwas verfallenen Bau geachtet hatte. Peine, der Ort, in dem ich seit einem Jahr wohnte, war an sich eine reine Pendlerstadt, in der Romantik genauso fehl am Platze war wie ich. Als ich herzog, hatte ich eine ganze Weile versucht, neue Bekannte zu finden, mit denen ich etwas unternehmen könnte. Nur leider gab es wenig zu unternehmen in Peine, und ich hatte auch niemanden gefunden, der sich für das interessierte, was ich spannend fand: Theater, Literatur, klassische Musik. Niemand, bis ich Gereon traf.
Er hielt einen Vortrag in der Bücherei, bei dem er sein neues Buch vorstellte. Es ging um mittelalterliche Dichtung. Vom Mittelalter hatte ich nun leider nicht viel mehr Ahnung, als dass da irgendwelche fahrenden Sänger adlige verheiratete Damen singend zu Seitensprüngen verführen wollten, aber ich
dachte mir «besser als nichts» und ging hin. Gereon beeindruckte mich schon, bevor er ein einziges Wort gesagt hatte. Er war eher klein, sehr zierlich und trug eine Frisur wie Herbert Grönemeyer früher, also kinnlang mit Seitenscheitel. Früher, als ich noch im Außendienst in Barcelona gearbeitet hatte, fand ich den typischen Intellektuellenaufzug, schwarzer Rollkragenpulli und Tweedjackett, eher nervend, aber hier in Peine, in das ich versetzt worden war, um für die Zentrale zu arbeiten, hatte ich so etwas schon lange nicht mehr gesehen und freute mich. Gereon bewegte sich wie ein großer, geschmeidiger Kater. Er schien immer alles mit seinem ganzen Körper zu tun, so als wüsste er genau, was seine großen Zehen und seine Ohrläppchen machten, wenn er eine Folie auflegte. Und es machte den Eindruck, als fühle er sich in seinem Körper ausgesprochen wohl. So was weiß ich zu schätzen. Es gibt nichts Schlimmeres als Männer mit Komplexen, die sie dann mit Grobheit oder Verwahrlosung kaschieren. Gereon gefiel mir sehr, das muss ich sagen. Und als er mich das erste Mal ansah, direkt als ich hereinkam und mich aus meinem Mantel schälte, flatterten seine langen Mädchenwimpern, sodass ich am liebsten gleich zu ihm gegangen wäre, um ihn auf einen Kaffee einzuladen, vielleicht wäre ihm das auch recht gewesen, aber erst mussten wir uns noch zwei Stunden lang gedulden.
Der Vortrag war nicht gerade spektakulär, im Grunde kam unterm Strich dabei heraus, dass im Mittelalter fahrende Sänger verheiratete adlige Fräuleins zum Seitensprung bereit singen wollten, aber Gereon trug ihn frei mit einer dunklen, schwebenden Stimme vor, und ich lehnte mich zurück, genoss es einfach, mich einmal mit anderen Dingen zu beschäftigen als Bierwetttrinken in Holzkneipen, in denen die Daddelautomaten an der Wand gegen die dröhnende deutsche Volksmusik anpiepen. Manchmal nahm Gereon seine Lesebrille ab, legte die gepflegten schmalen Hände zusammen und sprach von seinen persönlichen Motiven, sich mit diesem oder jenem Aspekt näher zu beschäftigen. «Diese kultivierte Leidenschaft», sagte er zum Beispiel, und immer, wenn er dieses Wort sagte, sah er mir direkt in die Augen, «ist in unserer heutigen Zeit völlig verloren gegangen. Werbung, Hingabe, Verehrung sind völlig fremde Begriffe.» Ich seufzte.
Er sprach mir aus dem Herzen. Zu sagen, dass man die Liebe sucht, die ganz große, die einzige, ist besonders lächerlich, wenn man in Peine wohnt. Das ist keine Stadt für Abenteuer und verzehrende Leidenschaft, das ist einfach ein Ort, in den man abends zurückkommt, um zu essen und zu schlafen. Allein, versteht sich. Denn bisher hatte ich hier nicht einmal einen Mann fürs Bett gefunden. Und schon gar keinen, der es zu schätzen gewusst hätte, wenn ich nachts für ihn Rezsö Seress auf dem Klavier spiele, weil Seress die erotischste Musik geschrieben hat, die ich mir vorstellen kann, oder Saties Koffermusik, weil man damit so herrlich traurig wird und einem lauter Geschichten einfallen, die man sich dann gegenseitig erzählen kann. Und jetzt war plötzlich Gereon in mein Leben getreten.
Ich wusste sehr wenig von ihm. Die ältliche Dame, die ihn im Gemeindezentrum vorgestellt hatte, hatte nur erzählt, dass er Mediävistikprofessor an der Hochschule in Hannover war. Das
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