Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
einladend wirkt. Manchmal nehme ich ihn in der Zeit aus seinem Wasserglas und führe ihn mir ein. Ich nenne ihn meinen Biodildo. Natürlich verwende ich als Kernwirt nur Bioavocados. Sonst kriege ich ja nachher noch vergiftete Bäume.
Vor dem Einführen aber unbedingt die Zahnstocher entfernen. Dank meiner gut trainierten Scheidenmuskeln kann ich ihn nachher wieder rausschießen lassen. Dann ab zurück ins Wasser gezahnstochert. Und warten.
Nach ein paar Monaten kann man am dicken Ende einen Ritz erkennen. Der wird immer breiter, ein tiefer Spalt mitten durch den Kern. Es sieht so aus, als würde er bald auseinanderbrechen, und plötzlich sieht man unten eine dicke weiße Wurzel rauswachsen. Sie kringelt sich nach und nach ins Glas, weil sie sonst keinen Platz zum Wachsen hätte. Wenn die Wurzel schon ziemlich lang ist, kann man mit einem Auge ganz nah oben an den Spalt rangehen, dann erkennt man einen mini-kleinen grünen Spross, der nach oben rauswächst. Jetzt ist es Zeit, den Kern in einen Topf mit Aussaaterde zu pflanzen. Und ganz bald schon wächst ein richtiger Stamm mit vielen großen, grünen Blättern.
Näher komme ich an eine Geburt nicht ran. Ich habe mich monatelang um diesen Kern gekümmert. Hatte ihn in mir und hab ihn wieder rausgepresst. Und ich kümmere mich perfekt um alle meine so entstandenen Avocadobäume.
Ich will wirklich, seit ich denken kann, ein Kind haben. Es gibt aber bei uns in der Familie ein immer wiederkehrendes Muster. Meine Urgroßmutter, meine Oma, Mama und ich. Alle Erstgeborene. Alle Mädchen. Alle nervenschwach, gestört und unglücklich. Den Kreislauf habe ich durchbrochen. Dieses Jahr bin ich achtzehn geworden und habe schon lange drauf gespart. Einen Tag nach meinem Geburtstag, sobald ich ohne Erlaubnis der Eltern durfte, habe ich mich sterilisieren lassen. Seitdem klingt der von Mama so oft wiederholte Satz nicht mehr bedrohlich: »Wetten, wenn du dein erstes Kind kriegst, wird es auch ein Mädchen?« Ich kann nämlich nur noch Avocadobäume kriegen. Bei jedem neuen Baum muss man fünfundzwanzig Jahre warten, bis er selbst wieder Früchte trägt. Ungefähr so lange muss man als Mutter auch warten, bis man Großmutter wird. Heutzutage.
Während ich hier gelegen und glücklich über meine Avocadofamilie nachgedacht habe, sind die Schmerzen weggegangen. Man merkt es genau, wenn sie kommen; wenn sie gehen, merkt man das nicht, fällt gar nicht auf. Aber jetzt stelle ich fest, dass sie ganz weg sind. Ich liebe Schmerzmittel und male mir aus, wie es wäre, wenn ich in einer anderen Zeit geboren wäre, als es noch nicht so gute Schmerzmittel gab. Mein Kopf ist frei von Schmerzen und hat Platz für alles andere. Ich atme ein paar Mal tief durch und schlafe erschöpft ein. Als ich die Augen aufmache, sehe ich Mama über mich gebeugt.
»Was machst du denn?«
»Ich decke dich zu. Du liegst hier völlig entblößt.«
»Lass das so, die Decke ist zu schwer für meine Arschwunde, Mama. Das tut weh. Ist doch egal, wie das aussieht. Denkst du, das haben die hier nicht schon tausendmal gesehen?«
»Dann bleib so, in Gottes Namen.«
Gutes Stichwort.
»Kannst du bitte das Kreuz über der Tür abhängen? Das stört mich.«
»Nein, das kann ich nicht. Helen, hör auf mit dem Quatsch.«
»Gut, wenn du mir nicht hilfst, muss ich wohl aufstehen und das selber machen.«
Ich hänge ein Bein aus dem Bett, täusche ein Aufstehen an und stöhne vor Schmerzen.
»Schon gut, schon gut, ich mach’s. Bitte bleib liegen.«
Geht doch.
Sie muss den einzigen Stuhl im Raum zur Hilfe nehmen, um an das Kreuz über der Tür zu kommen. Während sie da draufklettert, stellt sie mir in übertrieben freundlichem, lockerem Ton Fragen. Sie tut mir leid. Jetzt ist es aber zu spät.
»Seit wann hast du diese Dinger da bei dir?«
Was meint sie? Ach, so. Die Hämorrhoiden.
»Schon immer.«
»Aber nicht, als ich dich früher gebadet hab.«
»Dann hab ich die wohl grade bekommen, als ich zu alt war, um von dir gebadet zu werden.«
Sie klettert vom Stuhl runter und hält das Kreuz in der Hand. Sie guckt mich fragend an.
»Tu es doch hier in die Schublade.« Ich zeige auf meinen Metallnachtschrank.
»Mama, weißt du, Hämorrhoiden sind erblich. Fragt sich nur, von wem ich die habe.«
Sie schiebt die Schublade ziemlich fest wieder zu.
»Von deinem Vater. Wie war die Operation?«
Wir haben mal im Pädagogikunterricht gelernt, dass Eltern von Scheidungskindern oft versuchen, das Kind auf ihre jeweilige
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