Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
tonisierend? Ich stelle mir Mama immer tonisiert vor. Keine schöne Vorstellung. Und seitdem ich dieses Wort in meinem Wortschatz habe, nenne ich meinen Bruder Toni so: Tonisiert. Der hat noch nie drüber gelacht. Ich immer.
Schnell langsam wieder ins Bett.
Für die Wege hier brauche ich extrem lange. Hätte ich nicht gedacht, dass das Poloch so viel mit dem Gehen zu tun hat. Auf diesem Schildkrötengang kann ich mir überlegen, was ich heute alles machen will. Mein Vater und meine Mutter werden heute bestimmt kommen. Ich werde sie wieder zusammenbringen. Und ich muss meine Avocadokernsammlung aufbauen und mit Wasser versorgen. Ich muss ein gutes Versteck für die Kerne finden, sonst werden die mir hier weggenommen. Ich bin schon auf der Höhe vom Jesusbild. Ich hänge es von der Wand ab und nehme es mit zum Bett. Es passt perfekt zwischen Metallnachtschrank und Wand, wo keiner es sehen kann. Sehr schön. Ein Atheistenkrankenzimmer. Ich kraxele wie ein Krüppel auf mein Bett und bin geschafft. Was ist das? Ich sehe Tropfen auf dem Boden. Eine lange Spur. Vom Duschzimmer bis zum Bett, mit Bogen zur Wand. Das sind Pipitropfen. Ich habe mich nicht abgetupft. Mache ich nie. Aber sonst geht alles in die Unterhose oder anderen Stoff. Hier habe ich untenrum nichts an, also landet alles auf dem Boden. Lustig. Ich kann aber nicht aufstehen und alles wegwischen, den Weg schaff ich so schnell nicht noch mal, und hinhocken zum Wischen kann ich mich erst recht nicht. Also muss es so bleiben. Ich zähle die Tropfen, die ich bis zur Tür sehen kann. Zwölf. Wobei Nummer neun und zehn vom reinscheinenden Sonnenlicht erwischt werden und aussehen wie kleine ausgeschnittene Kreise aus Alufolie oder noch was Schönerem. Mein Vater ist Wissenschaftler, er hat mir erklärt, dass manche Lichtstrahlen beim Eindringen in den Tropfen gebrochen werden. Deswegen sieht es aus, als wäre das Licht darin gefangen. Und das restliche Licht wird von der Oberfläche zurückgestrahlt. Daher der Glanz obendrauf. Es klopft, und jemand geht mit weißen Gesundheitsschuhen die Pipistraße entlang. Die Socken sind unglaublich weiß. Bei uns zu Hause bleibt nie was weiß. Alles Weiße kriegt nach einmal Waschen eine andere Farbe. Ein dreckiges Rosa oder ein braunes Grau. Noch mehr Leute kommen rein. Die Tropfen werden alle zertrampelt. Die Leute haben alle meine Pipi unter ihren Gesundheitsschuhen. Das ist genau mein Humor. Ich stelle mir vor, wie sie den ganzen Tag auf den verschiedenen Stationen für mich mein Revier markieren. Was machen die eigentlich hier, außer Pipistraßen von kleinen Mädchen kaputtzumachen?
Ah. Das sind lauter Ärzte und Lehrlinge oder wie die heißen. Die machen Stippvisite. Was soll das Stipp eigentlich bedeuten? Hat das was mit Heringstipp zu tun? Die haben schon längst gegrüßt. Mich Sachen gefragt. Und ich hab mich um anderes gekümmert. Kann ich jetzt auch weiter machen. Der beste Platz für die Kernsammlung wäre wohl die Fensterbank. Wegen dem Licht. Ich müsste das nur abschirmen, damit man es nicht sehen kann, wenn man im Raum steht.
Ich höre den Satz: »Wenn sie einen erfolgreichen Stuhlgang hatte, darf sie nach Hause.«
Schon klar. Die reden wohl über mich. Die Stuhlganglady. Da ist ja auch der Notz. Vor lauter Ärzten erst gar nicht gesehen. Bitte ich jemanden, für mich Wasser in die Gläser zu schütten? Ich kann unmöglich für das Kernwasser immer hin und her gehen. Das würde bei meinem Gehtempo Tage dauern. Ich habe die Gläser für meine Kerne und ein extra Glas für mein Sprudelwasser. Das müsste einer zum Vollgießen benutzen und immer zwischen Fensterbank und Waschbecken hin und her gehen. Nein, ich hab’s. Ich nehme das Sprudelwasser für die Kerne. Davon bringen die Krankenschwestern mir immer Nachschub. Da muss ich keinen bitten, das kriege ich alleine hin. Sehr gut. Für meine Kernebabys nur das beste Mineralwasser. Reich an Calcium und Magnesium und Eisen und weiß der Geier, was sonst noch. Da werden sie gut von wachsen.
Die gehen alle wieder raus, um meine Pipibotschaft zu verteilen. Endlich kann ich mit der Arbeit beginnen.
Ich schnappe mir die kleine Kiste, die Mama benutzt hat, um die Kerne zu transportieren. Erst muss ich die Gläser aus dem Zeitungspapier rollen. Vollkommen übertrieben, sie so einzupacken. So wie Mama Auto fährt. Schritttempo und vor jeder Bodenschwelle ein Vollstopp.
Um die Achsen zu schonen, sagt sie. Das war früher mal so. Moderne Autos sind so
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