Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
stoßunempfindlich, dass man voll über solche Hubbel drüberbrettern kann, ohne dass was passiert. Sagt mein Vater.
Die acht Gläser stelle ich in die äußerste rechte Fensterbankecke. Jeden der acht Kerne spieße ich mit drei Zahnstochern auf und hänge sie in die Gläser. Das Sprudelwasser gieße ich so hoch an, dass zwei Drittel des Kerns unter Wasser sind.
Mal gucken, wie sie den Transport und den einen Tag und die Nacht ohne Wasser überstanden haben. Das ist das erste Mal, dass ich Kerne verreisen lasse. Ich brauche was, um sie abzuschirmen vor den Blicken der Menschen, die hier ins Zimmer kommen. In der Schublade meines Metallnachtschranks war doch ein Buch? Ich ziehe die Schublade auf. Die Bibel. Natürlich. Diese Christen. Die versuchen es aber auch überall. Nicht mit mir. Als Blickabschirmer ist sie gerade gut genug. Ich stelle sie aufgeklappt vor die Kerne, aber falschrum, damit das Kreuz auf dem Kopf steht. Das ärgert die doch, oder? Das bedeutet doch was Schlimmes für die. Aber was? Egal.
Obendrauf auf mein kleines Kernehaus lege ich die Speisekarte für die Woche, so kann auch von oben keiner mein Geheimnis sehen. Ich kriege sowieso nur noch Vollkornbrot und Müsli.
Familie fertig aufgestellt. Durch die Kernsammlung fühle ich mich ein bisschen wie zu Hause. Wenn ich mich um meine Kerne kümmern kann, habe ich immer was zu tun. Wasser nachgießen oder auswechseln. Das Wachstum mit dem Fotoapparat dokumentieren. Ab und zu den Schleim vom Kern entfernen. Tote oder kranke Sprossen abknipsen, damit gesunde nachwachsen können. Solche Sachen.
Das Telefon klingelt. Wer hat das eigentlich angemeldet? Machen das diese Grünen Engel? Mit welchem Geld? Braucht man dafür überhaupt Geld? Der Sache muss ich noch auf den Grund gehen. Ich hebe ab.
»Hallo?«
»Ich bin’s.« Mama.
Heute wollen Mama und Papa mich besuchen kommen. Beide werden versuchen, es so einzurichten, dass ihr Besuch nicht auf dieselbe Uhrzeit fällt.
Ich wünsche mir so sehr, dass meine Eltern zusammen in einem Zimmer sein können. Dass sie mich gemeinsam hier im Krankenhaus besuchen. Ich habe einen Plan.
Mama fragt: »Wann kommt dein Vater?«
»Du meinst deinen Exmann? Den du mal sehr geliebt hast? Um vier.«
»Dann komm ich um fünf. Schaffst du es, dass er bis dahin weg ist?«
Ich sage ja, denke nein. Sobald ich mit Mama aufgelegt habe, rufe ich Papa an und sage ihm, es würde mir gut passen, wenn er um fünf käme.
Papa kommt um fünf und hat mir ein Buch über Nacktschnecken mitgebracht.
Ich halte es für eine Anspielung auf mein Poloch und frage nach. Er dachte, die interessieren mich, weil ich ihn mal was über sie gefragt habe. Das habe ich bestimmt gemacht, weil ich mit Papa nur über Ersatzthemen reden kann.
Nicht über echte Gefühle und Probleme. Der hat das wohl nie gelernt. Deswegen rede ich mit ihm viel über Pflanzen, Tiere und Umweltverschmutzung. Auf gar keinen Fall fragt er, wie es meiner offensichtlich klaffenden Wunde geht. Mir fällt nicht viel ein, worüber ich mit Papa reden kann. Die ganze Zeit, die er da auf seinem Stuhl hinter meinem Fußende sitzt, erwarte ich, dass es gleich klopft und Mama reinkommt. Ich hasse peinliche Pausen. Versuche aber als Selbstversuch, sie auszuhalten. Dafür ist Papa das perfekte Gegenüber. Er sagt einfach nichts. Außer ich frage ihn was. Er hat nicht das Bedürfnis, scheint mir. Ich gucke ihn an und er mich. Es ist schrecklich still. Aber er guckt nicht unfreundlich oder so. Eigentlich ganz freundlich und friedlich. Mama hat ihn verlassen. Warum, weiß ich nicht. Könnte ich auch einfach mal fragen. Habe vielleicht Angst vor der Antwort. Aber es ist auf keinen Fall ein Grund, jemanden zu verlassen, nur weil er da sitzt, einen anguckt und nichts sagt. Da muss schon eine bessere Begründung her. Vielleicht ist ihre Liebe weggegangen. Wenn man sich wirklich was Gutes versprechen will: Wenn du willst, bleibe ich bei dir, auch wenn ich dich nicht mehr liebe. Das ist ein gutes Versprechen. Das heißt wirklich für immer.
In guten wie in schlechten Zeiten. Und das sind doch wohl schlechte Zeiten, wenn der eine den anderen nicht mehr liebt. Nur zu bleiben, solange die Liebe noch da ist, reicht nicht, wenn man Kinder hat.
Mama kommt zu spät. Sie ist um sechs noch nicht da. Papa verabschiedet sich. Schon wieder nicht geschafft. Sie stoßen sich ab, wie zwei Magneten, die ich zusammenbringen will.
Mein Ziel ist, dass sie sich sehen und sich viele Jahre nach ihrer Scheidung
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