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Feuchtgebiete: Roman (German Edition)

Feuchtgebiete: Roman (German Edition)

Titel: Feuchtgebiete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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Getränk. Sie schmeckt ekelhaft chemisch. Es dauert lange, bis ich genug Spucke zusammen habe für einen Schluck. Gulp. Und weg ist sie. Ich mache das Licht aus und will wieder einschlafen. Geht aber nicht. Meine Blase ist voll. Sehr voll. Wenigstens stört mal die Blase und nicht der Arsch. Und ein Geräusch stört mich plötzlich sehr. Es rauscht, wie ich finde sehr laut. Von draußen, glaube ich. Klingt wie die große Klimaanlagenabluft des Krankenhauses. Sie haben das Rohr, während ich geschlafen habe, genau auf mein Fenster gerichtet. Ich weigere mich, auf Klo zu gehen. Du musst mit voller Blase einschlafen, Helen, oder gar nicht. Gegen das Rauschen drücke ich mir das Kissen auf den Kopf. Das obere Ohr wird vom Kissen zugedrückt, das untere Ohr von der Matratze.
    Das rauscht jetzt aber im Kopf genauso laut wie die Luftanlage draußen. Ich presse meine Augen zusammen und will mich in den Schlaf prügeln. Denk an was anderes, Helen. Aber woran?
    Ich rieche etwas.
    Ich befürchte, es ist Gas. Ich rieche und rieche immer wieder. Es bleibt Gas. Ausströmendes Gas. Fast kann ich es hören. Schchchcht. Um ganz sicher zu sein und mich nicht zu blamieren, warte ich noch ein bisschen. Ich halte die Luft an. Zähle ein paar Sekunden und nehme noch einen tiefen Atemzug. Ganz sicher Gas. Licht wieder an. Ich stehe auf. Die Bewegung tut mir weh. Ist mir aber egal. Besser Arschschmerzen als in die Luft zu fliegen.
    Ich geh raus in den Flur und rufe.
    »Hallo, ist da jemand?«
    Mama hat uns eigentlich verboten, »Hallo« zu rufen. Sie meint, das klinge so, als würde man abfällig mit Behinderten reden.
    Ausnahmsweise mache ich es. Ist ja ein Notfall.
    »Hallo?«
    Ganz still ist es im dunklen Flur. Gruselig, so ein Krankenhaus nachts.
    Da kommt eine Schwester aus dem Schwesternzimmer, zum Glück kein Bruder. Wo ist Peter?
    »Können Sie mal kommen? In meinem Zimmer riecht es nach Gas.«
    Ihr Gesicht wird ganz ernst. Sie glaubt mir. Gut.
    Wir gehen in mein Zimmer und schnuppern rum. Ich rieche nichts mehr. Dieser starke Gasgeruch. Einfach so weg! Kein Gas, kein nichts. Schon wieder passiert.
    »Ach, nee, doch nicht. Vertan.« Ich ziehe die Mundwinkel übertrieben nach oben.
    So will ich es wie einen Scherz aussehen lassen.
    Ich mache das aber sehr schlecht. Ich kann es nicht fassen, dass ich schon wieder auf mich selber reingefallen bin. Zum hundertsten Mal. Schätzungsweise.
    Sie guckt mich voller Verachtung an und geht raus. Sie hat ja recht, darüber macht man keine Scherze. War auch keiner. Das schlimmste Gaserlebnis bisher, außer dem echten, war auch bei uns zu Hause. Abends beim Einschlafen war ich mir sicher, dass es nach Gas riecht. Immer stärker wurde der Geruch. Weil ich weiß, dass Gas leichter ist als Luft, obwohl das schwer vorstellbar ist, dachte ich, ich bin flach auf dem Bett liegend ganz gut aufgehoben. Ist ja fast auf dem Boden.
    Ich weiß, dass es lange dauert, bis alle Räume des Hauses sich mit Gas füllen und es sich von der Decke langsam nach unten ausbreitet. Ich war mir sicher, dass Mama und mein Bruder Toni schon tot sind. Je nachdem, wo das Gas ausströmte, Keller oder Küche, waren ihre Räume eher voll.
    Ich lag lange Zeit im Bett, mir fielen zwischendurch fast die Augen zu, ich dachte, vor Sauerstoffmangel – war aber Müdigkeit, und überlegte, was ich machen soll.
    Ich dachte, wenn ich aus dem Bett aufstehe, schlage ich einen Funken, und dann bin ich schuld, wenn das ganze Haus in die Luft fliegt und ich sterbe. Die anderen sind ja schon tot. Denen wäre es egal, wenn das Haus explodiert.
    Ich beschloss, ganz langsam aus dem Bett zu klettern und den Boden entlangzurobben, bis nach draußen.
    Das Haus ist ganz still. Ich habe, wenn ich hier lebend rauskomme, nur noch meinen Vater, der zum Glück nicht mehr in diesem Todeshaus wohnt. Das ist der einzige Vorteil, der mir einfällt, an geschiedenen Eltern.
    Auf dem Boden liegend recke ich meine Hand in Richtung Haustürgriff und öffne die Tür. Es dauert sehr lange, ein paar Meter Flur zurückzulegen, in Schlangenbewegung über den Teppich. Sobald ich draußen bin, hole ich ein paar tiefe Atemzüge Luft. Ich habe es überlebt.
    Ich gehe weit weg von dem Haus, damit ich nicht von umherfliegenden Backsteinen getroffen werde, wenn es jede Sekunde in die Luft geht.
    Ich stand da im Nachthemd von unserer einzigen Straßenlaterne beleuchtet auf dem Bürgersteig und guckte mir das Grab meiner Mutter und meines Bruders an.
    Im Wohnzimmer war Licht an.

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