Feuer brennt nicht
und die Sanftheit ihrer Stimme zerreißt ihm fast das Herz.
Sie sieht aus, als hätte sie die ganze Zugfahrt über nicht geschlafen und nur geweint – was sie tatsächlich getan hat, wie sie ihm später erzählt –, und vom vielen Putzen sind die Nasenflügel aufgeraut und rot. Vorsichtig küsst er ihre Stirn, die Lider mit den nun farblosen Wimpern, den noch ungläubigen Mund, und berührt dabei jene Mulde, die man in der Kindheit Rotzrinne genannt hat und die der Überlieferung nach von einem Engel stammt, seinem Finger, mit dem er uns vor der Geburt, dem Schritt auf die andere Seite, die Lippen verschließt. Und dann fühlt er alle Haarwurzeln im Nacken bei dem Gedanken an das Echo dieses Augenblicks, der ihm auch deswegen so nahe geht, weiler bereits von Erinnerung verdichtet wird; weil sich in irgendeiner fernen Zukunft gerade einer von ihnen daran erinnert.
»Komm ins Bett«, flüstert er.
2
Amerikanische Mystik
Die Unwahrheit fängt mit dem Kunstwillen an, dem Arrangement, aber das merkt man zunächst nicht. Er kommt mit den Jahren, der Überdruss an der Fiktion, der Ekel vor dem Phantasieren, Fabulieren, Retardieren, dem Ausmalen und Weglassen. Es hat etwas Gefälliges, Hurenhaftes, Falsches, und nach über einem Dutzend Büchern glaubt er zu wissen: Es ist vorbei, dieses Erzähltheater; es geht nicht mehr. Jede Idee schon schal, bevor man sie ausspricht, jedes Sujet endlos durchgenudelt im Fernsehen, wozu also ein neuer Dreh. Heute noch etwas erfinden heißt, der Wahrheit verlorengehen, und trostloser als ein Könner wäre nur dessen Genugtuung über sein Können. – Aber denkt man allen Ernstes daran aufzuhören, für immer, tappt man in die schlimmste aller Fallen. Es wäre das Ende nicht nur des Künftigen, es würde auch alles Bisherige zunichte machen. Wer aufhören kann, hätte niemals anfangen dürfen.
Am südöstlichen Rand von Berlin, kurz vor der Grenze zu Brandenburg, wird es fast schon ländlich. Gewächshäuser unter windschiefen Kiefern, Schrebergärten, das Erpetal. In hohem Gras ein Bach oder Fließ, dessen schwungvolle, von Weiden gesäumte Ufer miteinem Geflecht aus Zweigen in Form gehalten werden; ein einzelner Reiter hinter dem Schilf. Noch mehr Pappelsamen wirbelt umher, viel zu früh für die Jahreszeit; der ganze ratternde S-Bahnwagen ist voll davon; man muss sich die Sporen von den Lippen zupfen, aus den Haaren. Sie verklumpen zu lichten Gespinsten und rollen in länglichen Flocken unter die Bänke, und das Gestöber legt sich erst, wenn der Zug vor den Bahnhöfen langsamer wird. Wieder betrachtet Wolf Alinas Spiegelbild in der Scheibe, ihre Silhouette mit dem Perlenohrring, und sie lächelt vage und streichelt seine Hand. »Wir schaffen das, oder?«
Was soll er sagen. Die Kisten sind gepackt, und der Transporter ist beladen und steht vermutlich längst vor dem Haus. Nach einer schlaflosen Nacht voller Zweifel, die sich bis zur Verzweiflung auswuchsen auf der nackten Matratze, und nach stundenlangen Gesprächen vor Tagesanbruch, in denen er sich und ihr Kopf und Herz zermarterte, bis sie schluchzend im Bad verschwand, ist er nur noch müde. So wenig wie Alina je mit einem Mann hat er mit einer Frau länger in denselben Räumen gelebt; jeder Versuch ging gründlich daneben, und so glaubt er auch nicht mehr daran, es noch einmal zu lernen, nicht mit Ende vierzig. Andererseits ist es klar, dass sie sich in Friedrichshagen keine zwei Wohnungen leisten können; der Bezirk ist begehrt bei jungen, gut situierten Familien, und die Preise sind entsprechend. Wollen sie Kreuzberg hinter sich lassen, müssen sie zusammenziehen, und dieser materielle Umstand hat etwas Beschämendes – mit amüsanter Note übrigens,erinnert er ihn doch an die frühen achtziger Jahre, als es kaum bezahlbaren Wohnraum in Westberlin gab und zusammenlebende Paare, die sich trennen wollten, es nicht konnten …
Das Finanzielle war bisher kaum ein Thema gewesen. Von den Verhältnissen nicht mehr zu verlangen als das Nötigste ist ihnen selbstverständlich, und darum ging es ihnen nie wirklich schlecht. Und wenn Eleganz die Beschränkung auf das Nötigste in seiner schönsten Form ist, haben sie sogar ein elegantes Leben. Er ist ein nach wie vor erfolgloser Autor – auskömmlich erfolglos, das schon, und er kann sich wohl auf seinen Verlag verlassen –, und Alina unterrichtet Deutsch als Fremdsprache an Privatschulen, was ebenfalls lausig bezahlt wird. Aber bislang hatten sie immer genau so viel Geld, wie
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