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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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einem Labyrinth voller Plastikpflanzen, hinter denen man einen neuen Stempel bekam und über endlose Flure zur nächsten Tür geschickt wurde, zum nächstenGebäude, zwei Tage lang, bis man wieder vor dem ersten Beamten stand. Und alle ständig Lächelnden meinten es todernst.
    Eine Mischung aus Angst und Belustigung war es, die er in diesem Land empfand; als würde man permanent angeschrieen von jemandem, den man im Grunde nicht ernst nehmen kann. Alle Wolkenkratzer sagten immer nur: Ich! Ich! Ich! Und alles dazwischen höhnte: Du nicht! Du nicht! Doch dass die amerikanische Gesellschaft prüde sei, ist ein Gemeinplatz, der nicht unbedingt auf Amerikaner zutrifft. In dem College, in dem er unterrichtete – aber das ist ein zu großes Wort; er sprach einmal pro Woche mit einem Dutzend Studenten über deutsche Literatur, auf Deutsch, und ließ sich außerdem Rezepte von Käse- und Bananenkuchen geben –, stand ihm auch eine Sekretärin zur Verfügung. Auf einem Anschlag voller Siegel und Signaturen über ihrem Schreibtisch konnte er lesen, was von den weiblichen Angestellten als »sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz« zu werten und sofort der Leitung anzuzeigen sei: entsprechende Witze, Berührungen jeder Art, ein doppeldeutiger Blick in die Augen oder auf andere Körperstellen, das Ausbeulen der Wange mit der Zunge, das wiederholte Befeuchten der Lippen während des Gesprächs, das Sich-Kratzen unter der Gürtelline oder ein Händedruck, der länger dauert als nötig. Die Frau daneben hatte sichtlich Mühe, ihren Busen in die enge Bluse zu zwängen, und trug sie darum etwas offener als üblich. Er blickte in ein Gesicht, das herausfordernder nicht geschminkt sein könnte, und auf seine Frage, ob denn seinDreitagebart erlaubt sei, lächelte sie strahlend und sagte: Ausnahmsweise. Aber nur weil er so schlecht Englisch spreche.
    Peach hieß sie und war zwar auch Studentin, doch da ihre Eltern die dreitausend Dollar Gebühren pro Monat nicht ganz aufbringen konnten, musste sie in der Verwaltung mitarbeiten, fernab ihrer Jugend. Dabei hatte sie es noch gut; ärmere Kommilitonen putzten die Klos. Der Druck an dem Elite-College war ungeheuer, wer keine Bestnoten erreichte, schädigte dessen Ruf und damit den Marktwert. Außerdem würde jedes zu wiederholende Semester die Familie ruinieren, und um Geld zu sparen, wohnte Peach nicht im Studentenheim, aß nicht in den teuren Mensen, sondern hatte sich zusammen mit fünf Freundinnen ein Haus am Ortsrand gemietet, eine zugige Bretterbude, von der die weiße Farbe blätterte. Dort wärmte sie Ravioli in der Dose auf und half ihm, seine Aussprache zu verbessern, gegen Honorar; gemeinsam lasen sie sein übersetztes Buch. »Wir denken nur an Sex«, gestand sie ihm eines Abends bei einem Drink. »Und wir reden nur darüber, in jeder Minute. Aber die Jungs hier kannst du natürlich vergessen.«
    Er massierte ihr den Nacken und die Schulterpartien, die hart waren wie Holz, während sie durch die Programme zappte, und als er sich darüber wunderte, auf allen Bildschirmen immer nur Gewalt zu sehen, Schüsse, Tote, Autowracks, vierundzwanzig Stunden täglich, ohne dass es jemanden stört, die Nation dagegen in Aufruhr gerät, wenn ein bloßer oder auch nur von einem dünnen Tuch bedeckter Busen zu erkennen istoder der Präsident wie jeder leitende Angestellte auf der Welt mit seiner Sekretärin vögelt, zuckte sie mit den Schultern. »Frag mich nicht«, sagte sie und öffnete die Knöpfe seiner Jeans. »Das ist amerikanische Mystik. Als ich vier Jahre alt war, wurden meine Eltern verhaftet: Sie hatten mich nackt im Meer baden lassen. Außerdem ist Clinton nun wirklich ein Schwein.«
    Auch wenn er lachen musste, weil er den Atem der letzten Worte schon auf der Vorhaut spürte, erhellte ihm der Augenblick, was die Sehnsucht nach einem Geheimnis verschleiert hatte. Denn in diesem Land, in dem man sich klug oder clever dünkt, weil man die Gewalt im Rücken hat, und dessen fast schon verzweifelt anmutender Patriotismus eine tiefinnere Heimatlosigkeit verrät, sind sogar die Hintergründe vordergründig. Amerika, das ist Materie in ihrer höchsten Potenz, also Schmerz, und all die unzähligen Schädelkrümmungen zusammen ergeben die weithin strahlende Kuppel, unter der die Macht an der Zersetzung der Gehirne arbeitet: Wenn man das Sexuelle zum Tabu erklärt und alles Frivole oder Erotische mit einem Zensurbalken oder einem Piepton versieht, hat das offenbar den Effekt, dass die Menschen an

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