Feuer brennt nicht
und Ohnmacht kann Sache des Absoluten nicht sein. Doch das wirst du erst später erkennen, womöglich im letzten Moment, wenn dich noch einmal der Blick der Getöteten trifft. Bis dahin halt die Klappe. Du kannst sie ohnehin nicht um Verzeihung bitten, kein Wort lässt sich mehr mit ihnen reden. Aber du kannst wenigstens mit ihnen schweigen. Kamera aus.
Die Schatten werden tiefer im Halbrelief der Erinnerung, die Höhen sind nicht licht genug. Wann hat er Alina zum ersten Mal hintergangen oder betrogen? Wörter, die kaum zutreffen, weil kein sogenannter Seitensprung je etwas an seinen Gefühlen für sie änderte. Auch wenn er glaubt, dass sie die Unterscheidung nichtmachen würde: Fragt er sein Herz, oder wie immer man das Organ der Wahrhaftigkeit nennen soll, war er ihr treu vom ersten Augenblick an. Befragt er dagegen seinen Körper, sieht die Sache anders aus.
So viel ist sicher: Als sie noch in separaten Wohnungen lebten und es mehr Freiräume gab zwischen ihnen, war seine Zuneigung ausschließlicher, auch in sexueller Hinsicht. Doch dass ihm andere Frauen auffallen, dass er sich beim Onanieren fülligere oder schlankere vorstellt oder gelegentlich in Bordelle geht, bedeutet in seinen Augen nicht wirklich Untreue: eine dem Vollmond oder den Hormonen geschuldete Heimlichkeit, nach der er trotz aller Verausgabung gestärkt zu ihr zurückkehrt und sie reizvoller findet als vordem. Das ist es auch, was ihn tröstet, wenn sich doch einmal Bedenken regen; denn immer noch war es bisher so, dass sie sich über seine erfrischte Kraft und seine gelenkige Poesie in den Kissen freute, lauthals. Erst ein Fehltritt macht den Tango vollkommen.
Er ist etwas zu spät, eine Baustelle auf der S-Bahnstrecke, und weiß doch, dass Charlotte noch später eintreffen wird. Den Auftritt lässt sie sich nicht nehmen, und das ist auch okay. Der Geschäftsführer im Zweireiher öffnet ihr die gläserne Zwischentür, als sie das »Einstein« betritt. Sie schenkt ihm ein Lächeln und begrüßt auch die Frauen hinterm Tresen und einen Zeitungsleser in der Ecke mit einem Nicken; obwohl noch nicht lange in der Stadt, hat sie offenbar schon ein Stammlokal. Der Kellner mit der Pferdeschwanzfrisur schlägt die Hacken zusammen und sagt wienerisch gedehnt: »Küss die Hand, Frau Professor!«
Auch ihn strahlt sie an und tritt an den kleinen Marmortisch, der Wolf zugewiesen wurde. Ihr frisch getöntes Haar mit der einzelnen grauen Strähne über der Schläfe sieht durch die Dauerwelle voluminöser aus, als es ist, und sie trägt einen rosa Rollkragenpullover und einen schwarzen Hosenanzug mit taillierter Jacke und grüßt ihn zunächst nicht. Das Kinn erhoben, inspiziert sie das Lokal und seine Spiegel und weist mit ihrer dicken, an den Kanten abgeschabten Aktentasche in die Ecke. »Lass uns dorthin gehen, auf die Couch. Hier sitzen wir ja im Zug.« Der Tisch ist größer und liegt ein wenig versteckt hinter dem schwarzen Konzertflügel, und Charlotte stellt das »Reserviert«-Schild und den Aschenbecher auf die Tasten. Sie benutzt noch dasselbe Parfüm wie vor fünfzehn Jahren, einen Klassiker.
» Du hast einen Hund?«, sagt sie schließlich und hält Webster ihren Handrücken hin. Der wedelt mit dem Schwanz, beschnuppert ihren Ärmel. »Und dann noch so einen schönen. Kriegt er auch was zu fressen bei dir?« Wolf hat ihn dabei, um dem Ausflug in die Stadt alles Verdächtige zu nehmen; was immer werden würde an diesem Abend, am Ende ist es ein Spaziergang mit Webster gewesen; er trägt die Leine zusammengerollt in der Tasche. Charlotte greift nach seinen Fingern und betrachtet ihn kurz, ein rascher Blick vom Schopf bis zu den Schuhen; der offensive Stolz in ihrer Körperhaltung hat noch zugenommen, und es ist ihr heller, vor Angriffslust heiterer Blick, der ihn daran erinnert, dass er ihre Augen stets für blau gehalten hat. Sie sind aber braun.
Als sie einander umarmen, glaubt er in ihrer Schmiegsamkeit schon den Hauch eines Versprechens zu lesen. Ihre Figur, leicht und kompakt zugleich, hat sich nicht geändert, nicht die Spur; die Taille ist schmal, der Bauch flach und der Hintern gerade so ausladend, dass man ihn beachtlich finden muss, ohne ihn dick nennen zu können. Während sie sich voneinander lösen, streicht sie wie zerstreut mit einer Daumenkuppe über seinen Bizeps unter dem Tweed, und mit der Hüfte hat sie vielleicht noch mehr gefühlt; in ihrer Miene ist etwas irgendwie Nachsichtiges, ein schmunzelndes »Später!« Aber erst
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