Feuer brennt nicht
einmal hat sie Hunger; erst einmal will sie reden. Und natürlich ein Glas Wein.
Doch als sie sich auf die gepolsterte Eckbank setzen, verliert sich ihre Souveränität in einem Ausdruck mädchenhafter Bangigkeit. Auch die Stimme wird leiser, ein raues Hauchen. »Mein Gott, hab ich mich beeilt!«, sagt sie und legt die Fingerrücken beider Hände an die Wangen, als wäre ein Glühen zu verbergen. Dabei will sie wohl eher seinen ersten Blick abmildern und ihm die vergangenen Jahre nicht gleich in dem Moment offenbaren, in dem der Kellner die Kerze ansteckt.
Denn abgesehen von der Spannkraft in Gebärde und Gang und dem Chic der Kleidung ist da fast schon etwas Ältliches in ihrem Wesen, trotz des gekonnten Make-ups. Der sehnige Hals, die schlaffere Haut unter den Augen, das dünnere Haar – während Wolf den gehorsamen Hund unter die Bank bugsiert, stellt er aus den Lidwinklen fest, dass sie deutlich bejahrter wirkt als er, was an sich nicht viel besagt, wird er dochmeistens für viel jünger gehalten. Er hat kein Übergewicht, sein Teint ist glatt, und die silbernen Haare, die ihm hier und da wachsen, fallen gnädigerweise immer wieder aus, um neuen dunklen Platz zu machen. Aber Charlotte, deren Lippenabdruck an dem Weinglas schwungvoller ist als ihr Mund, könnte annähernd sechzig sein, mit Klasse natürlich, was ihn zwar kurz einmal erschreckt; doch der Glanz von Erfahrung, den er an ihr wahrzunehmen meint, erregt ihn dann mehr, als jede Jugendlichkeit es gekonnt hätte. Verstohlen blickt er auf die Uhr.
Seine Gedanken wohl ahnend, erzählt sie ihm von ihrem Beruf und den Unmengen von zehrender Arbeit, die sie jeden Tag habe. All die Gremien in Deutschland, Österreich und der Schweiz, denen sie vorsitze, all die wissenschaftlichen Projekte, die sie leite, die Gutachten, die sie schreibe, und die Gespräche, die sie führe – und das neben dem regulären Universitätsbetrieb, den Vorlesungen, Seminaren und Doktorarbeiten: Langsam aber sicher werde sie reif für die Insel. Dreimal sei sie im Krankenhaus gewesen in der letzten Zeit, Nervenschwäche, Kreislaufkollaps, Darmverschluss. »Einmal hatten sie mich schon in die Wäschekammer geschoben mit meinem Bett. Und als ich aufwache in dem gekachelten Raum, kommt eine Schwester rein und sagt entgeistert: ›Ach Gott, ich dachte, Sie wären tot!‹« Urs, ihr Freund seit nunmehr zwölf Jahren, ein Baseler Physikdozent, besuche sie kaum noch, weil sie ja doch nicht loskomme von ihrem Computer. Und Mark, ihr anderer Freund, ein Beamter im Verkehrsministerium, Frau, zwei Kinder, beklage sich dauernd,dass sie höchstens am Sonntag Zeit habe für Sex, eine Stunde am Abend.
»Was ist ein Darmverschluss?«, fragt Wolf, dem der Magen immer mehr zusetzt in letzter Zeit und der sich doch ärgert über seine Hellhörigkeit, sobald es um Krankheiten geht. Bis in die Sprache hinein verästelt sich seine Angst; sagt jemand Gespür, versteht er Geschwür, und schreibt einer Kreis, liest er Krebs. Wie eine seelische Alterswarze kommt ihm das vor. »Was genau passiert da?«
Der Kellner bringt Charlotte einen Salat, und sie zieht mit den Zähnen, die neu sind, eine unauffällige Arbeit, perlgrau, ein Stückchen Huhn vom Spieß. »Oh«, sagt sie kauend. »Du wirst prall wie eine Trommel. Du kannst nicht mehr scheißen und riechst trotzdem wie ein Klo.«
Er isst nichts, trinkt nur Wasser und Kaffee, und während sie sich noch einen Wein bestellt und von ihrem Leben in der letzten Zeit erzählt, hört er zunächst weniger auf das, was sie sagt, als auf ihre Stimme, die Klangfarben darin, das Echo der Jahre. Auch wenn er es besser weiß, behagt ihm der Irrtum, dass zwischen Charlotte und ihm schon allein aufgrund des gemeinsamen Alters und ähnlicher Erfahrungen so etwas wie Harmonie oder gar Glück möglich ist. Er hat keine Freunde, nicht wirklich, obschon er manche Menschen oder Kollegen in ihrer Gegenwart so nennen würde. Zu sehr mit sich und seiner Arbeit beschäftigt, fehlt es ihm an Zeit, um Freundschaften zu pflegen, was kaum jemand versteht, auch der Geduldigste nicht. Früher oder später kommen die Briefe voller Untertöne oderdas schnippische Telefonat. Trotzdem gibt es immer wieder die Sehnsucht nach einem Einklang, der nicht nur ein Vorwand für ein Besäufnis wäre und dem sie sich jetzt, während Charlotte ihm beiläufig ein Stück gebuttertes Brot in den Mund schiebt, behutsam nähern.
Er fühlt sich geborgen auf der samtenen Sitzbank, und am liebsten hätte er
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