Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
Vom Netzwerk:
Wolf sich zwar diesen oder jenen Grund, um allein in die Stadt fahren zu können, doch erscheint ihm selten etwas plausibel. Es gibt wenige Besorgungen, die man nicht in Köpenick machen könnte, und von Abwechslung mag er nicht reden; Alina sitzt ebenfalls täglich am Schreibtisch und hätte sie nötig. Freunde hat er, wie gesagt, keine, ins Theater geht er schon lange nicht mehr, ins Kino selten, die Infusionen nach dem Hörsturz hat er hinter sich, und bei seinem Zahnarzt in Kreuzberg war er auch schon dreimal in diesem Jahr.
    Fast verübelt er Alina, dass sie die Ausschließlichkeit, mit der sie ihn liebt, ebenso bei ihm voraussetzt, wie eine gleiche Blutgruppe oder denselben Appetit. Das für Naivität zu halten, muss er sich ausdrücklich verbieten; sicher ist es Innigkeit – aber gerade die beengt ihn, steht ein Treffen mit der Anderen bevor, von Tag zu Tag mehr, so dass er irgendwann kaum noch weiß, ob es das ständige Beisammensein in der kleinen Wohnung ist, das ihm den Atem nimmt, oder sein schlechtes Gewissen. Als gäbe es eine Chemie des Betrugs, die die Atmosphäre mit Stoffen füllt, die zwar herb sind, aber vor dem Bittersten schützen, kommt es dann zu einem Ausbruch, einem klirrenden Streit, dessen Plötzlichkeit sie beide überrascht und bei dem es wie so oft umLappalien geht – fehlende Schnürsenkel, ein verlegter Schirm –, der ihm in seinen Augen jedoch das Recht gibt, türenknallend aus dem Haus zu stürmen und erst spät nachts zurückzukehren.
    Er will sie nicht verlassen, das steht von vornherein fest. Er will etwas freier an Alinas Seite bleiben, das ist alles. Obwohl er natürlich nicht weiß, wie er reagieren würde, wenn sie einen Geliebten hätte, hat er eine Vorstellung von einem Zusammensein, in dem jedem Raum bleibt für Eigenes und Geheimnisse die Wahrheit nicht aushöhlen, sondern bereichern. Er möchte mit ihr altern, ohne wie Herr und Frau Grauling zu werden; denn obwohl die jünger sind als er, sieht er in den stillschweigend und ohne jeden Eros zelebrierten Gewohnheiten dieser Menschen bereits die Metastasen einer Trägheit, die auf Erloschenes schließen lässt und für ihn das Ende wäre.
    Doch als er ihr gleich zu Anfang versuchsweise von Charlotte als einer Bekannten aus früheren Jahren erzählt, die er wiedergetroffen habe in einem Café, zufällig, und man habe geplaudert und etwas zusammen getrunken, blickt sie zu Boden und sieht schon gekränkt aus. Oder bildet er sich das nur ein? Jedenfalls wird sie blass, was bei ihr sofort bedeutet bleich, und so redet er nicht weiter, denn er will sie nicht verletzen. »Und?«, fragt sie trotzdem, um Heiterkeit bemüht. Sie zerschneidet Futter für den Hund, graugelben Pansen. »Wart ihr im Bett?«
    Gerade mal ein Wimpernschlag vergeht zwischen dem Ausklang ihrer Frage und seiner Antwort ohne Miene, einem scheinbar gelassenen »Quatsch! Wie kommstdu darauf?« Und doch fühlt er sich in dem kurzen, aus der Feigheit geborenen Augenblick bereits verschlungen von einem ganzen Kosmos aus Halbwahrheiten und falschen Tönen, in dem ihm das Geflacker trister Ausflüchte und endloser Verstellungen die Seele so grau färbt, wie es die übel riechenden Innereien auf dem Brett sind. Grau wie den Magen der Farbe Grau.

    Ein Brief mit italienischer Marke, als Absender nur Initialen. Auch wenn sie inzwischen etwas verzittert ist, immer noch sieht man der raumgreifenden Schrift, ihrem grafischen Gestus, den Willen zum Charakter an: Der ehemalige Freund und Mentor meldet sich, aus seinem Haus in Ligurien. Er legt einen Privatdruck bei, Gedichte mit Zeichnungen auf japanischem Papier, und teilt ihm mit, dass er und seine Lebensgefährtin demnächst in Berlin sind. Nach einer halben Ewigkeit, in der sie weder miteinander telefoniert noch korrespondiert haben, will er Wolf in dessen Wohnung in Friedrichshagen »besuchen« und schlägt auch gleich Tag und Stunde vor in einem Ton, in dessen Vertrautheit schon deswegen etwas Befremdliches oder gar Rüdes liegt, weil er mit heiterem Hopplahopp so tut, als hätte man sich damals nicht verstimmt, ja verbittert voneinander getrennt. Dass das ein unangemessener Überfall sein könnte, fällt ihm, dem über Siebzigjährigen, offenbar nicht ein; Sensibilität war seine Sache nie. Doch einen Hauch von Skrupel glaubt Wolf darin zu erkennen, dass er seiner Unterschrift, dem etwas kantigergewordenen Richard, in Klammern den Nachnamen hinzufügt (Sander) . Er hält es also für möglich, vergessen zu sein oder

Weitere Kostenlose Bücher