Feuer brennt nicht
kaum zu atmen, außerdem macht es auch zu Fuß immer mehrMühe, voranzukommen vor lauter Touristen, und am Boulevard St.-Michel steigt er hinab in den Metroschacht und beschließt, ins ruhigere Montparnasse zu fahren, um dort etwas zu essen. Erneut ruft er Alina an. Wieder reagiert sie nicht.
In den weiß gekachelten Gängen des großen Umsteigebahnhofs klicken die Ticketmaschinen und zischen die Druckluftsperren in einem Rhythmus, der an alte Filme denken lässt, an futuristisch gemeinte, dramatisch ausgeleuchtete Fabriken, in denen Stille in Dosen gefüllt oder Ewigkeit portioniert wird, und ein paar Eilige überspringen mehrere Stufen gleichzeitig, um in den wartenden Zug zu gelangen. Obwohl bereits die roten Signale blinken und der Summton vor dem Schließen der Türen warnt, versucht auch Wolf noch einzusteigen, wird aber von einem Bettler am Ärmel gehalten, einem traurig lächelnden Mann mit einem Akkordeon, dessen Balg ihm von der Schulter baumelt, und so tritt er zurück von der Bahnsteigkante und gibt ihm ein paar Münzen. Und nachdem der Zug im Tunnel verschwunden ist und die Schienen auf den öligen Schwellen, zwischen denen es vor Mäusen wimmelt, wieder das Gewölbelicht reflektieren, sieht er sie auf der anderen Seite.
So plötzlich, wie sie ihn verlassen hat im »Select«, steht sie da in ihrem dünnen Mantel und hebt zaghaft eine Hand, als wollte sie auf sich aufmerksam machen in der Menge, was ihr dann aber wohl zu viel des Entgegenkommens ist, denn sie lässt die Bewegung in ein Zurückstreichen der Haare übergehen. Als wäre Paris ein Dorf, findet er es zunächst nichterstaunlich, dass sie sich hier, in den Katakomben eines beliebigen U-Bahnhofs, den die Züge im Minutentakt in alle möglichen Richtungen durchkreuzen, ohne jede Verabredung wiedersehen. In einem Text würde er so ein Zusammentreffen niemals zulassen, weil es nicht glaubwürdig und die Schicksalhaftigkeit des Augenblicks zu offensichtlich wäre. Doch die wird ihm erst viel später bewusst; jetzt ist er einfach nur erleichtert, macht einen tiefen Atemzug und bemüht sich, nicht zu deutlich zu lächeln, als er über die lange Treppe und die Empore auf den anderen Bahnsteig geht und sich Alinas Silhouette nähert, dem Schatten ihrer zarten Schultern an der Wand. Und während er die Reisetasche neben ihre stellt und so nah vor sie tritt, dass die Mantelknöpfe sich berühren, glaubt er in dem milden Ernst der Augen und der ruhigen Gefasstheit ihrer Züge zu lesen, dass auch sie sich kaum wundern würde, wenn er am Tag nach seinem Tod ganz normal mit ihr weiterleben, ihr das Frühstück ans Bett bringen, den Toast buttern und den Kaffee einschenken würde; im Licht ihrer Liebe betrachtet, kann es gar nicht anders sein, denn letztlich ist die poetische Logik immer genauer als jede andere.
Die Vögel, die sie fast täglich mit einer Handvoll Sonnenblumenkernen füttern, haben sich an Websters Silhouette hinter den getönten Scheiben der Balkontüren gewöhnt; jedenfalls fressen sie ohne Angst. Aufrecht sitzend beobachtet er fast bewegungslos ihr Flattern und Picken auf den Terrakottafliesen, als wären dieständig sich ändernden Muster, die all die Spatzen, Meisen, Grünlinge und Kleiber durch das unablässige Herumhüpfen bilden, etwas Lesbares für ihn, eine geheime Schrift, deren Sinn sich nie erschöpft. Nur wenn sie sich streiten und aufeinander losgehen, dass die Federn fliegen, wird er unruhig und winselt leise. Besonders die grellen Kleiber springen brutal mit den anderen um, und dauert der Kampf zu lange, bellt er sogar: das Glas vor dem Maul beschlägt, und der Schwarm verschwindet in der Linde.
Im Haus an der gegenüberliegenden Straßenseite, halb verborgen von den Vorhängen seiner Westfenster, steht Herr Grauling und fotografiert die Arbeiten auf dem Nachbargrundstück, wo der Kindergarten demnächst eröffnet wird. Man betoniert die Fundamente für die Rutsche, legt einen Sandkasten an und zimmert eine Baumhütte in die Eibe. Er hat zwar auf dieser Seite auch einen Balkon und könnte also an das Gitter treten und seine Aufnahmen unter freiem Himmel machen; doch bleibt er hinter der Scheibe und zieht sich den Tüllstoff seiner Stores so weit vor den Körper, dass von außen wohl nur sein Objektiv zu erkennen ist, wenn überhaupt etwas.
Wolf, der gerade einen Kamillentee für Alina kocht, kann es nicht glauben. So wie er die Fraglosigkeit, mit der man sich in diesem Bezirk schon als junger, für Weite und Revolten
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