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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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vergessen? Haftungsbereichsleiter war ich, das wohl; allerdings nur für die Mocca-Bar. Aber da kriegte man auch dicke Füße. Dauernd war Schlagrahm aus, und dann setzte es Ärger, weil sichunsere Bürger benachteiligt fühlten. Ich musste unzählige Anrufe und Beschwerdebriefe abwimmeln. Angeblich hätten wir immer die westlichen Messegäste bevorzugt, wegen der Devisen.«
    Tante Gerda gähnt. »Na, stimmt das etwa nicht?«, murmelt sie und langt nach dem zerdrückten Päckchen Zigaretten. Die Gichtknoten an ihren Fingern glänzen, als wären sie prall vor Schmerz; als täte ihr schon Kerzenlicht weh. »Das hab ich sogar als Klofrau gemacht! Eine Kabine blieb immer frei.«
    Gemessen neigt der Mann den Kopf. »Das ist korrekt, das könnte man so sagen, Verehrteste. Doch es war nicht offiziell. Den Eingaben musste widersprochen werden, mit sozialistischen Grüßen. Es gab zwar Missstände, aber niemals ohne Quittung.«
    Sein Kichern klingt wie leises Meckern, und Frau Seidenkrantz, der das Gespräch wohl peinlich ist, legt Alina eine Hand auf die Schulter und zeigt zum Spalier, wo sich in diesem Augenblick zwei Knospen öffnen, kaum merklich erst. Zwischen den Spitzen der lachsfarbenen Kelchblätter ist etwas reines Weiß zu erkennen, winzige Rüschen, an denen sich lange nichts verändert – als wäre das jähe Verstummen und die erwartungsvolle Aufmerksamkeit im Raum ein Widerstand, den zu durchbrechen die Blüten noch nicht wagten. Fast möchte man ihnen Scham andichten. Herr Mauch lässt seine Kamera laufen, und langsam lockern sich die spitzen, spiralförmig um die Knospen gedrehten, an den Innenseiten strohgelben Kelchblätter und biegen sich zurück, um Raum zu schaffen für alles weitere.
    »Mit sozialistischen Grüßen!«, sagt die alte Frau und grunzt spöttisch. Sie zeigt mit dem verkohlten Streichholz auf Wolf. »Wissen Sie, was unter dem ersten Brief meines späteren Mannes stand? ›Ich liebe Dich für immer. Heil Hitler, Dein Kurt!‹ Drollig, oder? Das war so ein Super-Schneidiger; möchte nicht wissen, was der alles verbockt hat damals. Und dreißig Jahre, vier Kinder und zwei Fehlgeburten später, nachdem er sich mit seiner neuen Flamme an die polnische Ostsee verdrückt hatte, hieß es dann ›Ich hoffe, wir bleiben trotzdem Freunde. Mit sozialistischen Grüßen, Dein oller K.‹ Das zur Weltgeschichte. Wo ist meine Asche?«
    Jetzt sind die Blumenkronen so weit zu sehen, dass man unwillkürlich an alte Kostüme denkt, an Spitzenmanschetten, die aus dunklen Samtärmeln ragen. Der Duft, seine jähe Süße, scheint das Gewächshaus höher zu wölben, Insekten flattern gegen das Glas, und Wolf schiebt der Frau die Kristallschale hin. Sie wirft das Zündholz hinein und mustert dabei kurz seine Hände, und als sie die müden Lider hebt, ist etwas Kokettes in ihren Augen, ein ferner Glanz. Das Lippenrot, das sie irgendwann in den letzten Minuten aufgelegt hat, ist ihr leicht über den Mund geraten, und sie dreht sich ein paar Haare, fein wie Spinnfäden, um den zittrigen Finger. Zwei Eheringe schimmern daran.
    Grau ist diese Frau bis in die Poren hinein, bis in die Wimpern, schlaff hängt die Halshaut herab, doch die verträumte und ein wenig traurige, ganz offensichtlich von der Erinnerung an die Liebe belebte Heiterkeit in den Zügen macht sie schöner, als sie ahnt. Fasziniert von ihrem hellen Blick, in dem sich wie in derverblüffend klaren Handschrift mancher Greise Sehnsucht ausdrückt und Haltung zugleich, sieht Wolf sie wohl etwas zu lange an, zu eindringlich auch, und kommt sich plötzlich taktlos vor in seiner Virilität; er schließt einen Knopf an seinem Hemd. Und als er sie ablenkend fragt, wo denn im Ort die Heinrich-Mann-Straße sei, nippt sie von dem Schnaps und atmet tief, ehe sie mit der Zigarette zum Fenster weist, auf ein paar Kiefern am Rasenrand. »Wieso? Wollen Sie mich besuchen? Der Schlüssel liegt immer unter der Treppe.«
    Das weiße Haus zwischen den Bäumen ist recht klein. Es hat ein fünfeckiges Mansarddach mit Gaube, einen halbrunden, von schlanken Säulen getragenen Balkon im ersten Stock und große Sprossenfenster auf der Gartenseite, wo es eine Terrasse gibt und einen schilfumwachsenen Teich. Die ausgetretenen Stufen, die zum Eingang führen, liegen im Schatten eines Vorbaus aus Balken und Schindeln; leere Milchflaschen stehen darunter. Auf einer Stuckrosette am Giebel sind zwei Schwalben zu erkennen. Ein altes Haus, wie es heute niemand mehr zu bauen versteht; der

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