Feuer brennt nicht
leicht aussehenden und gleichzeitig massiven Form und den geistvollen und doch nicht nur erdachten Proportionen zufolge stammt es aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und macht trotz der geschlossenen Fenster und Türen den Eindruck, dass es jedem freundlich offensteht. Hinter dem First ist der Waldrand zu ahnen, und auch Alina beugt sich vor, zieht den Zweig einer Kamelie zur Seite und flüstert: »Mann, ist das schön.«
Das Mondlicht lässt die Scheiben funkeln, und dieGreisin blickt mit ihnen über den Rasen. »Finden Sie? Na ja, ich sehe das nicht mehr. Bin kaum noch hier. Jedenfalls ist es trocken und warm. Wenn Sie wollen, können Sie es kaufen. Ist nicht teuer. Zwei Zimmer unten, zwei oben, ideal für ein Paar. Ich hab noch ein anderes in Rahnsdorf, direkt am Wasser. Aber wahrscheinlich geh ich sowieso ins Altenheim, zu meiner Tochter. Die wird ja auch schon fünfundsechzig.«
Frau Seidenkrantz stellt Schüsseln mit Bouletten und Kartoffelsalat auf den Tisch, verteilt Teller und Bestecke und entkorkt eine Flasche »Rotkäppchen«-Sekt. Später gibt es noch einen Apfelstrudel mit Vanilleeis und Sahne sowie frisch gebrühten Kaffee, und während er sich die Tasse füllt, mustert Wolf so dezent wie möglich den Kannenuntersetzer. Der braune Plastikteller mit einer Schaumstoffauflage, die als Tropfenfänger dient, ist mit zwei hosenträgerartigen grünen, straff über den Porzellanleib gespannten Gummibändern und einem Messingkettchen am Kannendeckel befestigt; zusätzlich hat die Tülle eine Schaumstoffmanschette mit Schmetterlingsflügeln aus Blech, auf denen VEB Doppeladler steht, und in seiner Faszination darüber, dass offenbar ein ganzes Kombinat damit beschäftigt war, die Bürger und ihre Tischdecken vor herabfallenden Kaffeetropfen zu schützen, ist er einen Moment lang doch unsicher, ob er den vergangenen Staat nun poetisch finden soll oder monströs.
Während Tante Gerda sich einen Schluck Wodka in die Tasse gießt und wortlos die Königin der Nacht betrachtet, unterhält Alina sich mit der Gastgeberin undFrau Mauch über besondere Einkaufsmöglichkeiten in Friedrichshagen und Umgebung. Sie speichert Telefonnummern in ihrem Handy und zeigt ihnen bei der Gelegenheit ein paar Fotos: die neugeborenen Zwillinge ihres Bruders. Weil man weder die sprechende Stille der Pflanze noch die Andacht der Betrachter stören mag, wird fast immer geflüstert, und Wolf fällt einmal mehr auf, wie sich Haltung und Aura seiner Frau ändern, sobald sie unter Menschen ist; zarter erscheinen ihm dann ihre Konturen, strahlender der Blick. Wie befreit von seiner ausschließlichen Gegenwart und dem hauchzarten Staub der Zweisamkeit, treten ihre Züge in der Gesellschaft anderer klarer und frischer zutage, artikuliert sich ihr Zauber in einem anderen Kräftespiel neu.
Das Haar glänzt kupfern und ihr Zahnschmelz, wenn sie lächelt, reinweiß, was sie jünger aussehen lässt, mädchenhaft – aber gerade dieses Leuchten betont auch fremde Schatten. Seit einigen Wochen schon glaubt er, eine neue Melancholie in ihrem Gesicht wahrzunehmen, ein gedankenverlorenes Starren, tiefere Falten zwischen den Brauen, und hofft doch ängstlich, dass es sich dabei nicht um Trauer über sein Verhältnis zu der anderen handelt oder um den bitteren Bodensatz der vielen kleinen und größeren Streitereien, der sich in all den Jahren abgelagert hat. Oft wirkt sie müde und erschöpft, und dann scheint er sie mit seinen Worten nur von fern zu erreichen – was sie meistens mit der Konzentration auf ihre Arbeit entschuldigt; doch gibt sie sich dann heiter, kommt ihm das mutwillig vor. Auf jeden Fall ist etwas andersgeworden, und manchmal findet er sie wieder ähnlich geheimnisvoll wie in der ersten Zeit am Südstern, in der ihr behutsames Überschreiten seiner Schwelle so unsagbar edel aussah, als beträte sie die zarten Ränder ihrer Zukunft, und er ihre stumme Scheu für eine verborgene Weisheit hielt, was sie vermutlich auch war. Denn Alina hatte ihm schon damals den lichten, die Liebe meinenden Ernst voraus, den nur wirklich starke Menschen aufbringen, wirklich freie auch. Während er noch an sein ungemachtes Bett dachte und sich in der Kneipentoilette mit einem klemmenden Kondomautomaten abmühte, wusste sie längst um die Einzigartigkeit ihrer Begegnung, und kehrte er dann an den Tisch voller leerer Gläser zurück, war etwas in ihren Augen, das er auch jetzt wieder darin sieht: reine Bejahung, trotz vager Angst, und die
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