Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
schläft nicht. Sie weiß schon, dass dort nur noch ein Körper liegt. Und doch muss sie es mit eigenen Augen sehen.
Linnéa greift nach der Decke und zieht sie vorsichtig zurück, deckt Jontes Kopf und seinen nackten Oberkörper auf. Seine Augen sind halb geöffnet, als wäre er gerade wach geworden. Seine Hand liegt zusammengeballt auf der Brust.
Linnéas Hand zittert, als sie die Finger an seinen Hals legt. Kein Puls. Aber die Haut ist noch warm. Vorsichtig schließt sie Jontes Augen. Sie konnte früher nie verstehen, warum man das macht, jetzt schon.
Sie schaut ihn an. Es ist lange eher, dass sie ihn ohne Mütze gesehen hat. Seine Haare sind seitdem noch dünner geworden. Sie hat ihm immer geraten, sich den Mist endlich vom Kopf zu rasieren, statt Tag und Nacht, das ganze Jahr, mit dieser Mütze rumzulaufen, nur weil es ihm peinlich war, eine Glatze zu bekommen.
»Linnéa!«, flüstert Anna-Karin.
Linnéa dreht sich um. Anna-Karin steht direkt an der Tür. Sie sieht zu Tode erschrocken aus und zeigt nach draußen in den Flur.
Linnéa geht zu ihr, lauscht in die Dunkelheit, bis sie es hört. Ein gedämpftes Schluchzen.
Sie überquert den Flur und öffnet die gegenüberliegende Tür. Im Zimmer ist es stockfinster. Sie kann fast hören, wie jemand die Luft anhält. Linnéa tastet die Wand ab, bis sie den Lichtschalter findet.
Lucky sitzt zusammengekauert auf einer alten Matratze, als versuchte er, sich so klein wie möglich zu machen.
… töte mich nicht, töte mich nicht, töte mich nicht, töte mich nicht, töte mich nicht …
Linnéa muss seine Gedanken ausschalten. Lucky ist nahe daran, den Verstand zu verlieren, und sie hat Angst, dass er sie mit in den Wahnsinn zieht.
»Lucky?«, sagt sie.
Er reagiert nicht.
»Lukas? Ich bin es, Linnéa«, sagt sie und geht vorsichtig näher.
Er wimmert auf und schlägt die Arme über den Kopf, als wollte er sich vor einem Schlag schützen.
»Alles ist gut«, sagt sie. »Du bist nicht in Gefahr, Lucky. Du bist nicht in Gefahr. Ich bin es nur.«
Sie streckt die Hand aus, um ihn zu berühren, aber dann überlegt sie es sich anders. Er hat viel zu viel Angst, sie weiß nicht, wie er darauf reagieren würde.
Linnéa schaut zu Anna-Karin, die in der Tür steht, die Hände vor den Mund gepresst.
»Kannst du ihn zum Reden bringen?«, fragt sie.
Anna-Karin lässt die Hände sinken und nickt.
Anna-Karin geht vor Lucky in die Hocke und versucht, sich zu sammeln. Jontes toter Körper hat ihr Angst gemacht, aber es ist fast noch schlimmer, jemandem gegenüberzustehen, der innerlich so zerstört ist wie Lucky.
Er hat mehr Angst als ich, mahnt sie sich.
»Lucky, ich bin es, Anna-Karin. Erinnerst du dich an mich?«
Lucky kauert sich noch kleiner zusammen.
Abgesehen vom Training mit den anderen Auserwählten hat Anna-Karin ihre Kraft lange nicht mehr eingesetzt. Sie fürchtet sich davor, die Magie wieder fließen zu lassen. Es war so leicht, sie zu missbrauchen. Und sie hat nie etwas Gutes bewirkt.
Aber ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie damals, denkt sie.
Sie holt tief Luft. Lässt die Kraft frei, erst nur ganz wenig, und sie rinnt leicht aus ihrem Körper, füllt ihr System.
»Lucky, schau mich an.«
Sie befiehlt es ihm nicht. Sie lockt ihn nur, so sanft sie kann.
Lucky hebt langsam den Kopf und erwidert ihren Blick.
»Wir wollen dir nichts tun«, sagt sie. »Du musst keine Angst mehr haben.«
Er nickt dankbar, richtet sich ein wenig auf. Jetzt kann sie den Aufdruck auf seinem T-Shirt lesen.
Engelsfors’ Stolz
.
»Kannst du mir sagen, was passiert ist?«
Lucky öffnet den Mund, macht ihn zu und wieder auf.
»Ich war. Im … im Keller«, sagt er. »Ich war im Keller. Und ich habe jemanden auf der Treppe gehört.«
»Weißt du, wer das war?«
»Nein. Ich bin hochgegangen … Jonte hat geschrien. Erst war er wütend. Es klang, als würde er mit jemandem streiten. Er wird nicht so schnell wütend, aber wenn er mal sauer wird, dann richtig … und dann waren da andere Stimmen. Ich hatte Schiss, dass es die Bullen sind. Aber dann habe ich gehört, wie er um Verzeihung flehte. Also wirklich
flehte
. Wieder und wieder hat er gesagt, wie leid es ihm tut. Und dann …«
Lucky verstummt. Sein Bewusstsein droht, Anna-Karins Griff zu entgleiten, er will zurück ins Vergessen, an einen Ort, wo er nicht darüber nachdenken muss, was passiert ist. Vorsichtig lässt sie ein wenig mehr Kraft fließen.
»Alles ist gut«, sagt sie. »Es ist vorbei. Erzähl mir, was
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