Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
eingebildet, sie könnte diesem Gespräch endlos aus dem Weg gehen?
»Was ist eigentlich mit euch los?«, fragt sie, als ihre Mutter nicht antwortet.
»Das ist eine Sache zwischen Papa und mir …«
»Und Bahar.«
Mama versteinert.
»Hat sie etwas gesagt?«
»Nein, aber es war ja wohl nicht zu übersehen, dass sie Bescheid weiß. Und dass Papa weiß, dass sie weiß. Warum erfährt Bahar mehr darüber, was in dieser Familie los ist, als ich?«
Minoo merkt, dass ihr jeden Moment die Tränen kommen. Aber sie wird nicht weinen. Sie muss zeigen, dass sie stark genug ist, um mit der Wahrheit umzugehen.
»Ich will dich nicht mit diesen Dingen belasten«, sagt Mama.
»Denkst du etwa,
das hier
ist nicht belastend?«, sagt Minoo. »Ihr weigert euch, mir zu sagen, worum es geht! Ich soll einfach akzeptieren, dass ihr andauernd streitet. Ich wohne im selben Haus wie ihr, falls es euch entgangen sein sollte.«
Mamas Hand krallt sich so fest um das Lenkrad, dass ihre Knöchel ganz weiß werden.
»Ach, Liebling …«, sagt sie und ihre Stimme bricht. Für einen Moment sagt sie nichts, dann nimmt sie erneut Anlauf. »Ich verstehe dich. Wirklich. Und ich werde dir alles erzählen. Du hast völlig recht, dass es dich genauso betrifft wie uns. In höchstem Maße. Ich musste mir nur erst selbst über alles klar werden, deshalb habe ich auch mit Bahar geredet. Aber eins kann ich dir versprechen: Du hast absolut keine Schuld daran, dass dein Vater und ich …«
»Natürlich nicht!«, fällt Minoo ihr ins Wort. »Für wie alt hältst du mich eigentlich? Fünf? Ich ertrage das nicht mehr! Löst eure Probleme, macht eine Therapie oder sonst was! Oder lasst euch von mir aus einfach scheiden!«
»Minoo …«
Aber Minoo stößt die Autotür auf, steigt aus und geht zur Schule. Sie schluckt die Tränen, schluckt den Schmerz, die Schuldgefühle und den Zorn. Schluckt und schluckt, bis alles wie ein kleiner, harter Klumpen in ihrem Bauch liegt.
Als sie auf den Schulhof kommt, ist ihr erster Gedanke die Frage, ob sie etwas verpasst hat. Ist heute irgendein Thementag?
Vor der Eingangstreppe stehen lauter Schüler in sonnengelben Poloshirts. Einige von ihnen unterhalten sich gut gelaunt. Andere verteilen Flugblätter und Aufkleber. Jemand hat gelbe Heliumballons ans Treppengeländer gebunden. An der Latte des verlassenen Fußballtors und in den Zweigen der toten Bäume hängen noch mehr.
Erst als Minoo erkennt, dass einer der gelb Gekleideten am Eingang Rickard ist, dämmert ihr langsam, was hier los ist.
»Minoo!«, ruft Linnéa, die eben durchs Tor kommt.
Sie ist das glatte Gegenteil der Kükenarmee am Eingang. Schwarze, hochtoupierte Haare mit einer großen Schleife aus schwarzer Spitze. Kurzes, schwarzes Kleid, zerfetzte schwarze Netzstrumpfhosen und hohe schwarze Stiefel. Ein Meer aus schwarzer Farbe um die Augen.
»Positives Engelsfors«, sagt Linnéa angewidert. »Wie schnell vermehren die sich eigentlich?«
Minoo versucht, den Blicken der gelben Masse auszuweichen, als sie und Linnéa auf den Eingang zugehen. Nach dem Streit eben im Auto fühlt sie sich ziemlich dünnhäutig. Schutzlos. Zwischen ihr und der Umwelt gibt es keinen Filter.
»Willkommen zum ersten Tag vom Rest eures Lebens!«, sagt ein ziemlich gut aussehender Junge und versucht, Minoo ein Flugblatt in die Hand zu drücken.
»Nein, danke«, gibt sie zurück.
»Warum siehst du so sauer aus? Hast du Zitronen gefrühstückt?«, fragt er lachend.
»Ich habe einen schlechten Tag.«
»Daran kannst nur du selbst etwas ändern!«
»Nein, Mehmet, du kannst dazu beitragen, indem du einfach die Klappe hältst«, sagt Linnéa.
»Traurige Einstellung, echt!«, ruft er ihnen nach, als sie durch die Schultür gehen.
Minoo und Linnéa schauen sich an.
»Der erste Tag vom Rest eures Lebens?«, sagt Linnéa. »Ernsthaft?«
»Klingt wie eine Drohung«, sagt Minoo.
Linnéa lacht und Minoo lächelt. Der harte Klumpen in ihrem Bauch wird ein wenig weicher.
»Wohin wollen die alle?«, sagt Linnéa.
Minoo dreht sich um und bemerkt erst jetzt, wie viele Schüler aus der Eingangshalle in Richtung Aula strömen.
Eigentlich alle, außer dem blauhaarigen Mädchen, das auf sie zukommt.
»Linnéa!«, ruft sie.
Ihr weißes Make-up kann die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht kaschieren. Es betont sie eher noch. Vielleicht ist das sogar Absicht. Sie hat ein langes schwarzes T-Shirt an mit dem Aufdruck THE GOOD DIE YOUNG . Die roten, mit Spritzern übersäten Buchstaben
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